New Mom in Town

Da wäre ich dann also wieder, mitten in der Grünen Hölle, wie der Spiegel ebenso schön wie nicht ganz unwahr meine neue alte Heimat jüngst betitelte. Die Kisten sind fast alle ausgepackt, bis auf einige wenige im Kinderzimmer, die ich mich nicht getraue aufzumachen, weil in ihnen die Feng-Shui-Hölle tobt: angefangene Bastelarbeiten, auf der Straße gefundene Dinge und andere Kostbarkeiten, Hottis Stiftespitzen-Sammlung (ja, sie sammelt abgebrochene Buntstiftspitzen, die Gute), Lottis Schießmunition-Sammlung (kleine gelbe Plastikkügelchen, die Jungs mit Plastikknarren im Park verschießen) und ca. 50 Millionen Kuscheltiere. Ich dagegen habe mir anlässlich der neuen Gegebenheiten ein eigenes Zimmer (Feng-Shui-Himmel) rausgelassen und mich von jedwedem irdischen Kram befreit, der bei 3 nicht auf den Bäumen war. (Dearest Fangemeinde, wenn Ihr mich wirklich liebt, dann schenkt Ihr mir ab jetzt nur noch Dinge, die verwelken oder essbar sind.)

Der Volkspark heißt jetzt Panzerhalle

Der Volkspark (Grünfläche mit 2 Spielplätzen, in der alten Heimat unser zweites Wohnzimmer) heißt jetzt Panzerhalle (Panzerhalle inmitten einer spielplatzähnlichen Grünfläche, in der neuen Heimat vermutlich mein dritter Balkon), Volkspark für Fortgeschrittene sozusagen, und da hänge ich jetzt mit den ganzen LOHAS-Eltern herum, die sich zehn Tage nach dem Spiegel-Verriss noch vor die Haustür trauen: jung, dynamisch, ökologisch, nachhaltig, schick (mutig: weiße Blusen), ausgerüstet mit elektrolytischer Apfelschorle und zahnschonenden Reiswaffeln für den alternativen Nachwuchs sowie einer gepflegten Latte Macchiato für sich selbst. Bei der Recherche nach der richtigen Schreibweise bin ich gerade über das sehr netten Abschnitt der „Kulturellen Bedeutung“ dieses koffeinhaltigen Heißgetränks in der Wikipedia gestolpert, das ich an dieser Stelle kurz anbringen möchte:

„Latte macchiato wird, ähnlich wie auch auch Bionade, häufig als Symbol für trendbewusste Neu-Großstädter der kreativen Mittelschicht und jungen Elterngeneration in Szenebezirken verwendet und demzufolge auch abwertend als Modegetränk der Yuppies und sarkastisch als Symbol und begleitendes Getränk von Gentrifizierungsprozessen betrachtet; Stereotype die unter anderem auch von Kabarettisten wie Rainald Grebe und Philip Tägert oder in dem Musical Mama Macchiato karikiert werden. Betroffene Bezirke werden in diesem Zusammenhang häufig als „Latte-macchiato-Viertel“, beziehungsweise „Latte-macchiato-Kiez“ bezeichnet. Unter der Bezeichnung „Latte-macchiato-Eltern“ oder auch speziell „Latte-macchiato-Mütter“ definieren Trend- und Zukunftsforscher eine marktwirtschaftlich relevante Zielgruppe, die einen bewusst urbanen Lebensstil in das Familienleben integrieren möchte.“ (Wikipedia)

Hat Dieter Thomas Kuhn seinen Porsche schon verkauft?

Ich lasse das jetzt mal so stehen, man muss es sich ja nicht gleich in der dritten Woche nach dem Umzug mit dem neuen Sozialgefüge verscherzen, zumal der Spiegel-Artikel hier nicht wirklich auf begeisterte Anhänger spieß, äh, stieß, und die meisten Leute hier sind ja auch wirklich nett. Gell! Bin heute übrigens an Dieter Thomas Kuhn beim nachmittäglichen Drink mit seinen Kumpels vorbeigelaufen, habe leider ganz vergessen ihn zu fragen, ob er seinen Porsche schon verkauft hat.

Hotti und Lotti sind völlig im Glück, sie ahnen noch nichts von Gentrifizierungsprozessen und Schlagermusik, sondern rennen den ganzen Tag durchs Treppenhaus, um andere Kinder einzusammeln, schwingen sich an Lianenschaukeln durch die grüne Hölle oder stürzen sich todesmutig in die Blaulach, den reißenden, an seiner breitesten Stelle ca. 50 cm fassenden Strom, der vor unserem Haus dahinplätschert.

Ich persönlich stehe noch ein bisschen unter dem Nachbeben des Umzugs, der mich physisch, mental und ökonomisch an meine Grenzen und darüber hinaus gebracht hat (wo nie ein Mensch zuvor gewesen…). Die Bilanz: Rückenschmerzen, entzündete Sehnen und Handgelenke, ein zerrüttetes Nervenkostüm und Schulden bei der Bank. Ansonsten versuche ich mich gerade an 5 Meter gegenüberliegende Häuser mit riesigen Fensterfronten zu gewöhnen, in denen Katalogfamilien zu Abend essen und an deren Dachterrassen Muschelketten hängen, und auch dass die mir plötzlich alle beim Ausziehen – Schlafen – Nasebohren zuschauen können, finde ich noch leicht grenzwertig. Aber sicher nicht mehr lang, schließlich sind wir ja alle eine grüne Familie.

Höllische Grüße
die aktuelle

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4 Gedanken zu „New Mom in Town

  1. Pingback: Jahresrückblick: Das war 2011 « Wunderbra

  2. Zu Deinen Ausführungen über die LOHAS in der Vorstadt fällt mir doch jene Southpark Staffel ein… (weil ich natürlich nicht die Staffel- geschweige denn Episodennummer im Kopf habe dazu, hab‘ ich geschwind gegoogled „southpark + smelling their own farts“ und fand sie prompt wieder!)
    „Smuggy San Francisco Town“, Staffel 10, Episode 2, auf deutsch hier anzuschauen http://www.southpark.de/ oder zum mitlesen auf Englisch: http://www.southparkstuff.com/season_10/episode_1002/epi1002script
    Viel Spaß damit, werte aktuelle, und bis zum nächsten Kommentar!

  3. Liebe Mom in Town
    Falls das allseits gegenwärtige Idyll zu unerträglich wird rate ich zu einem Ausflug in die Schattengefilde. Denn jede Katalogfamilie hat ihr Backstage. Dort schlägt der liebevolle Vater, der nebenbei auch noch ein Topverdiener ist, nachts seine Frau, Wondermom plagt tagtäglich der Zwangsimpuls, ihre Brut im Milchschaum zu ertränken und die zauberhaften, frühgeförderten Kinder aus der heilen Welt wissen garnicht, wogegen sie rebellieren sollen und werden in ihrer Verzweiflung mit 13 schwanger oder heroinabhängig.
    Da fühlt man sich doch gleich besser 🙂

    Ma Baker

  4. P.S.: Dieter Thomas Kuhn ist gestern mit seinem silbernen Porsche unter meinem Balkon vorbeigeknattert, die Frage, ob er ihn verkauft hat, hat sich damit wohl erledigt.

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