Der erste Advent

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Früher ging Weihnachten anders. Ich war die Weihnachtsfrau, ich liebte die Vorweihnachtszeit mit Advent, Plätzchen, Besinnlichkeit und Schneegestöber. Ich studierte und sah meine winterliche Hauptaufgabe darin, Kerzen anzuzünden und meine neurotisch-depressiven Mitbewohner im alternativ-antikapitalistischen Wohnprojekt zu bekehren: „Guck mal, es schneit!“ oder: „Jürgen, heute bist DU dran mit dem Adventskalender!!“ Jürgen hätte mir damals vermutlich am liebsten den Hals herum gedreht. Heute habe ich zwei kleine Kinder, Hotti und Lotti, ein altes Auto, einen Job mit einstündigem Anfahrtsweg, und die Weihnachtszeit erscheint wie eine einzige Grenzerfahrung. Alleine diesen Herbst habe ich drei vergeigte Laternenumzüge mit schlecht gelaunten Kindern, eine Plätzchenschlammschlacht, zwei Erkältungswellen, eine gesamtfamiliäre Bindehautentzündung, morgendliche Autoausfälle samt vereisten Scheiben und einen ersten Advent hinter mir, den ich am liebsten streichen würde.

Die Kinder: seit Tagen zu krank für Schule und Kindergarten, aber zu gesund für zu Hause. Ich: nach einer Woche Organisations- und Betreuungsstress reif für die Insel. Meine Hoffnung: ein besinnliches Adventswochenende. Die Realität: Morgens um 7 Uhr 30 zwei keifende Furien, die sich um Barbie-Puppen prügeln, sich die Gesichter zerkratzen und Haare ausreißen, sich schlagen und gegenseitig aus den Zimmern schmeißen und, als ich schlichten will, um 7 Uhr 55 Mama-Verbot-Schilder an die Türen kleben. Na gut, denke ich, Friede auf Erden, mach‘ ich mal Rolf und seine Freunde an, das hat noch immer geholfen, mir zumindest, er ist nicht umsonst seit 18 Jahren ungeschlagene Nummer eins auf der Hitlist meiner Lieblingsweihnachts-CDs, mach‘ ich mal Frühstück, Unterzuckertsein ist ja auch kein Spaß, und ausatmen und loslassen.

Um 8 Uhr 30 fliegen die Fetzen, weil beide die Adventskerze anzünden wollen, um 8 Uhr 32 schreie ich „Finger weg!“, weil sie anfangen, Äste aus dem Kranz zu ziehen, um 8 Uhr 45 ruft unsere Tagesoma an, ob sie uns um 10 Uhr das Kinderbett vorbeibringen könnte, das seit Monaten auf ihrem Dachboden herumsteht und das sie jetzt endlich loswerden will. Ein guter Zeitpunkt. Ich ziehe die Kinder und mich durchs Bad, begrüße die Oma, baue das Kinderbett zusammen, backe einen Kuchen für den Nachmittagsbesuch, Hotti und Lotti zanken sich um die Teigreste, ich mache Mittagessen, die Kinderzimmertüren fliegen, ich drehe das Radio lauter, bekomme Kopfschmerzen, den Kindern schmeckt das Essen nicht, uuäääähhhhrrr und igitt, ich räume ab, Spülmaschine einräumen, im Kinderzimmer steigt die nächste Prügelei, ich bin kurz davor mitzumischen, um 14 Uhr kann ich nur noch brüllen, Spülmaschine ausräumen, und in dem Moment, als Lotti schreit „Alle raus!! Ihr seid alle blöööööd!!!!“ ist es, schwupps, 15 Uhr, es klingelt und der Besuch, eine Familie mit zwei Kindern, steht vor der Tür. Wie schön, dass Ihr da seid, kommt doch rein, bei uns ist es gerade so gemütlich.

Ich decke auf, ich decke ab, Kaffee, Kuchen, Abendessen, um 19 Uhr 55 werfe ich die zwei Engel ins Bett, mir selbst fallen die Augen zu, um 20 Uhr steht meine Hosenkreuzer-Gruppe vor der Tür, eine Geheimverbindung, über die ich nicht sprechen möchte, um 23 Uhr 30 krieche ich mit unerledigten Arbeitspapieren ins Bett, und als ich die Überschrift zum sechsten Mal lese, ohne ihren Sinn zu erfassen, lösche ich das Licht und bin weg. Allerdings nur bis 23 Uhr 55, da schreit ein alptraumgeplagtes Nervenbündel, mein Automatenkörper wankt ins Kinderzimmer, tröstet, deckt zu, Kuss, gute Nacht, zurück ins Bett, zurück ins Koma. Um 0 Uhr 25 kriecht das Nervenbündel zu mir unter die Decke, strahlt mich an und sagt: „Dein Bett ist so gemütlich!“

Der nächste Advent kann nur besser werden. Die Hoffnung stirbt zuletzt.

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