Resilienz rules oder: Emotionen Pause machen

Corona und Krebs sind eine ätzende Kombination. Besonders für Hotti und Lotti ist der derzeitige Zustand eine ziemliche Zumutung: Sie sind Teenager*innen und wollen raus, feiern und Spaß haben. Statt Leichtigkeit und Unbeschwertheit heißt es jedoch: Rücksicht, Zurückhaltung, Vernunft und Kontrolle. Doch auch jenseits der speziellen Lage im Hause aktuelle dürften wir uns wohl alle darin einig sein, dass 2020 nicht das glanzvollste aller Jahre ist. Umso wichtiger ist es, die eigene mentale und psychische Grundkonstitution regelmäßig auf Vordermann zu bringen und so langfristig zu stählen. Um also in der gegenwärtigen Krise, die sich mutmaßlich noch eine ganze Weile ziehen wird, wenigstens einige unserer Tassen im Schrank zu behalten, habe ich als hauseigene Bundesregierung ein entsprechendes Maßnahmenpaket geschnürt, das ich seit Wochen sukzessive umsetze und gerne der Allgemeinheit als Basis für die persönliche Glücksforschung zur Verfügung stellen möchte.

Gönn Dir!

Millionen Chines*innen können nicht irren, wenn sie sagen „Es ist besser, ein Licht zu entzünden, als über die Dunkelheit zu klagen“, und so zünden Hotti, Lotti und ich nicht nur ab nachmittags allerorten Kerzen an, sondern arbeiten neuerdings auch hart mit dem Belohnungsprinzip. Für schulische Glanzleistungen bekommen die beiden regelmäßig Mandelhörnchen oder Quarkteig-Fledermäuse/-Nikoläuse vom Lieblingsbäcker, für erledigte Haus- und Haushaltsaufgaben winkt ein Einkaufsausflug in den geliebten Flohmarktladen, für ein Abenteuer in der Nuklearmedizin eine Boombox. Bis zum Lockdown gingen wir mit Fanta und deren Brut montags fett essen, alleine schon, weil wir den Montag geschafft hatten. Mittlerweile bestellen wir mittwochs Pizza, um die bewältigte Wochenhälfte zu feiern, und unterstützen so auch noch die hiesige Gastronomie. Darüber hinaus cheerleaden wir uns natürlich alle ständig gegenseitig: „Sagenhaft, wie Du Dich aufs Abi vorbereitest!“, „Wahnsinn, Du kapierst das amerikanische Wahlsystem!“, „Hammer, schon die vierte Chemo und Du lebst noch!“ Um mein eigenes Nerven- und Immunsystem und das meiner Freund*innen nicht bei unnötigen Einkaufstouren zu verschleißen, gönne ich mir selbst ein wöchentliches Gemüsekistenabo. Lotti hingegen, die aufgrund der lockdownbedingten Schließung des Zirkus Cannelloni Schwarz trägt, spendiere ich ein paar Gitarrenstunden bei der Nachbarin.

Erbauungsmediensammlung

Schließlich ist auch der passende Soundtrack in Krisenzeiten eine nicht zu unterschätzende Größe. Als Durchhaltehymnen empfehle ich Eye of the Tiger (von Survivor, sic!), Immer wieder kommt ein neuer Frühling und ganz besonders Emotionen Pause machen. Literarisch rate ich zu Tomte Tummetott, den dadaistischen Kurzgeschichten von Erwin Moser oder wahlweise Vogonengedichten. Resilienzratgeber dagegen, die momentan Hochkonjunktur haben, lassen wir schön im Regal stehen, zu groß ist der Optimierungsdruck, zu gering der Spaßfaktor: „Resilienz – Das Geheimnis der psychischen Widerstandskraft“, „Machen Sie sich krisenfest!“, „Das Hindernis ist der Weg“, „Die sieben Säulen der Resilienz“, „Ab heute stresst mich gar nichts mehr“, um nur einige zu nennen. Auch herkömmliche Nachrichten sind wohldosiert einzusetzen, am besten alternierend mit Good News, einem Nachrichtenkanal zur Unterstützung des körpereigenen Optimismussystems.

In der Sektion Bewegte Bilder geben Tatortreiniger, Mord mit Aussicht, Lucifer oder Terminator (Sarah Connor beim Durchhalten zusehen) viel her, Tiervideos gehen ohnehin immer. Hier einige unserer Top-Favoriten:

Die unglaublichsten Freundschaften zwischen Tieren

Kakadu tanzt „What is love“

Paradiesvogel beim Balzen

Japanese Puffer Fish baut ein Mandala

Um Hottis und Lottis Serotoninspiegel stabil zu halten, plane ich für die kommenden Wintermonate – Gipfel der Dekadenz – zudem ein Streaming-Abo, mein lokaler Videothekdealer, zu dessen letzten Kund*innen ich vermutlich gehöre, möge es mir angesichts der außergewöhnlichen Umstände nachsehen.

„Vier Schlangen beten ein Emoji an“

Jenseits des Medienkonsums gibt es natürlich noch etliche weitere Betätigungsfelder, um sich selbst robust, durabel und widerstandsfähig zu halten. Hier eine wilde Sammlung, die unter anderem auf Umfragen im Freund*innenkreis zurückgeht: unvernünftig viel Nachtisch essen; Bratäpfel mit Vanillesoße machen, dazu Kakao mit Sahne reichen; Kekse backen; Schlafanzüge kaufen; Sonnenuntergänge anschauen und danach direkt ins Bett gehen; elementare Dinge wie Bewegung, frische Luft, Plaudereien mit Freund*innen, schlafen, schnuckeln; sich eine Katze auf den Bauch binden; puzzeln; aufhören zu hadern (inschallah); eine Kakteensammlung anschaffen und ihrem Beispiel an Anspruchslosigkeit und Ausdauer folgen; Ausflüge mit Paarhufern unternehmen (Artikel folgt); Wunderbra lesen; Wunderbra schreiben; eine Reha machen und sich mal nur um sich selbst drehen; eine Feuerschale im Garten installieren; Wartungsberichte von Flugzeugen lesen; sich an eine laufende Waschmaschine kuscheln (Polyvagaltherapie); eine Weltkarte aufhängen und sich darüber kaputtlachen, wo die Kinder (und man selbst) bestimmte Orte vermuten; töpfern; Specksteinskulpturen mit abgefahrenen Titeln kreieren („Vier Schlangen beten ein Emoji an“, „Trump in Zwangsjacke“); an der Work-Life-Balance feilen und die Gilmore Girls schauen (besser spät als nie); umziehen; reiten; in der Werkstatt abtauchen; Frühlingszwiebeln versenken; eine halbe Stunde glasig gucken; Pläne für das nächste Jahr schmieden (HA!).

Die wichtigsten Aphorismen

Ansonsten gelten die oben genannten Maßnahmen selbstverständlich auch sämtlich für Teenager*innen, können allerdings für diese Zielgruppe noch erweitert werden um beispielsweise stundenlange Badezimmersessions, Haarkuren mit Apfelessig-Minze-Tinkturen, Gesichtspackungen mit Apfelessig-Heilerde („FÜHL mal, wie WEICH!“), jeden Finger- und Fußnagel in einer anderen Farbe lackieren, noch mehr Musik hören, noch mehr Serien glotzen, noch mehr Nachtisch essen, auch und gerade zum Frühstück.

Den ganz Abgeklärten unter uns, die die oben zum besten gegebenen Ratschläge bereits selbst und mehrfach erfolglos angewandt haben und sich nach wie vor die Haare raufen, möchte ich abschließend noch folgende tröstliche Aphorismen ans Herz legen:

The difference between fiction and reality is that fiction has to make sense.

Don’t despair at the absurd – go with it.

Das Leben ist eine Phase.

Und nun, liebe Gemeinde, lasst uns gemeinsam die Raute machen und inbrünstig ins Universum schmettern: WIR SCHAFFEN DAS!

Vorhair Nachhair

Bei der Recherche nach einer passenden Überschrift stießen Lotti und ich auf einen Übersichtsartikel im Spiegel über Namen von Friseursalons und damit verbundene Wortspiele („Eine Analyse von 22.000 Salonnamen aus ganz Deutschland offenbart die schrägsten Kreationen“). Besonders passend und schnittig fanden wir „Vorhair Nachhair“, dem wir diesen Wunderbra-Artikel widmen.

Hauptsache, das Krönchen sitzt.

Hauptsache, das Krönchen sitzt.

Als nächstes fallen mir die Haare aus. An Tag 15 nach der ersten Chemo-Dröhnung sind es zunächst einzelne Haare, die beim Kämmen ausgehen, an Tag 16 kleinere Büschel, an Tag 17 dann viele kleine Büschel. Die Haarwurzeln schmerzen und fallen vermutlich gerade reihenweise tot um. Am Abend von Tag 17 beschließe ich, in die Offensive zu gehen und Chéri samt Haarschneider einzubestellen. Ich bin erstaunt, wie sehr mich der Umstand, bald haarlos zu sein, dann doch trifft, träumte ich doch schon als 15-Jährige von der Frisur einer Gabriele Krone-Schmalz und als 16-Jährige von der Glatze der Sinéad O’Connor. Damals drohte mir meine Mutter, das Taschengeld zu streichen und meinen zimmereigenen Telefonanschluss zu sperren, wenn ich so weit ginge. Was für eine unnötige Aufregung: Dreißig Jahre später habe ich ja doch, was ich wollte.

Diesmal allerdings nicht freiwillig, und das macht einen Unterschied. Als ich mit dem Handtuch um die Schultern auf einem Küchenstuhl Platz nehme und Chéri mit dem Rasierer vor mir steht, muss ich kurz in seinen Bauch weinen. Lotti, die als treue Begleiterin seit Wochen nicht von meiner Seite weicht, steht mir auch in dieser schweren Stunde bei. Sie beobachtet still, wie ich mich trösten lasse, dann holt sie eine Tüte Chips, setzt sich auf den Stuhl neben mir, schaufelt sich mit einer Hand Knabberkram in den Mund und hält und drückt mit der anderen die meine. Die gute Seele! Mit Argusaugen verfolgt sie jede von Chéris Rasierbewegungen und weist ihn auf jede noch so kleine Unregelmäßigkeit hin („Hinterm Ohr ist noch ein Haar! Da an der Seite auch noch!“). Per Fotodokumentation steckt sie mir, dass Chéri, der Scherzkeks, mir einen Irokesenschnitt verpasst hat. Doch auch der fällt bald zu Boden. Es wird Herbst, und ich werfe dieses Jahr als erste mein Laub ab.

Einen schönen Menschen entstellt nichts

Am nächsten Tag starten Hotti und Lotti eine Fotosession mit mir, das haben sie sich bei der Huberin abgeschaut, deren kreativer Umgang mit ihrer damaligen Erkrankung keine Wünsche an Inspiration offenlässt. Die Reaktionen aus meinem Umfeld machen Mut: Fanta attestiert mir „eine wahrhaft royale Kopfform“, Frau Zirkus näht mir zwei entzückende, kuschelige Zwergenmützen in Grün und Rot (es ist echt kalt ohne Haare!), Frau Indigo schlägt vor, mich doch mal im Cannelloni-Fundus nach diversen Glamour-Perücken umzuschauen, und Chéri gesteht mir, dass er im allerersten Star-Trek-Film die Deltanerin Lieutenant Ilia voll hot fand. Und wie sagt außerdem der Volksmund so richtig: Einen schönen Menschen entstellt nichts.

Nach ein paar weiteren Tagen habe ich auch die Glatzen-Kröte geschluckt, sodass ich meine einstige Prachtmähne in Frieden ziehen lassen kann. Das Krönchen sitzt wieder, und immerhin habe ich noch Augenbrauen, Wimpern und Beinhaare – offensichtlich verfügt deren Zellteilung über eine andere Geschwindigkeit und bietet der Chemie-Keule damit länger die Stirn. Und im nächsten Frühling werden die Bäume wieder ausschlagen und so auch ich.

Die inneren Werte

Bei unserem zweiten Termin verpasst Professor Huhn mir eine fancy Clipmarkierung in die linke Brust. Dort sitzt ja bekanntlich der Tumor-Drecksack auf ein Uhr. Wie bereits in Krebs ist ein Arschloch grafisch dargestellt, besitzt dieser quasi die Form einer Kaulquappe mit zwei Schwänzen: ein fetter Bobbel in der Mitte, der zwischen meinen Milchgängen mittlerweile Fäden von insgesamt zehn Zentimetern Länge nach oben und unten ausgebildet hat. Um den ursprünglichen Anfangs- und Endpunkt des Tumors zu verorten, werden bei der Clipmarkierung nun zwei Metallkügelchen (oder -drähte?) in die Brust geschossen. So kann man wunderbar dabei zusehen, wie der Drecksack unter der anstehenden Chemotherapie schrumpfen wird, und bei der Operation schließlich das ursprüngliche Tumorareal lokalisieren und entfernen. Lotti fragt mich zu Hause ungläubig, ob ich jetzt Metalldinger im Busen habe, und ich antworte lässig: „Das ist der neue heiße Piercing-Scheiß. Außen und sichtbar kann jede*r.“

Um zu überprüfen, ob meine neuen Piercings auch richtig sitzen, werde ich zur Mammografie in die Radiologie geschickt. Für diese Röntgenaufnahme der Brust verrenkt frau sich zu vollkommen widernatürlichen Körperhaltungen, während die anwesende Fachfrau für das Fotoshooting professionell die gepiercte Brust hart zwischen zwei Plexiglasscheiben in Form presst. Ich frage sie, ob sie das den ganzen Tag mache. Sie bejaht. Was für ein Job. Sehnsüchtig und erleichtert denke ich an mein harmloses kleines Zirkusbüro. Luft anhalten, lächeln, Foto, fertig. Meine Innen-Piercings sitzen perfekt.

Strahlende Schönheit

Zurück bei Professor Huhn stellt sich heraus, dass mir in den nächsten Monaten eine steile polytoxikomane Karriere bevorsteht und meine diesbezüglichen Parameter damit durch die Decke gehen werden. Der Therapieplan sieht nämlich Folgendes vor: 24 Wochen Chemotherapie, drei Wochen Pause, Operation, vier Wochen Pause, sechs Wochen tägliche Bestrahlung, danach fünf Jahre Hormontherapie. Mir blüht eine hohe Infektanfälligkeit, was mich in Corona-Zeiten zur Risikopatientin macht. Einmal in der Woche wird ein Blutbild fällig werden, alle drei Monate ein EKG und Herz-Echo.

Danach geht es zu Frau Professor Fischke, der Onkologin im sechsten Stock. Sie offenbart mir die Implantierung des Portsystems für die Chemo in den nächsten Tagen, klärt mich über potenzielle Nebenwirkungen inklusive Haut- und Haarproblemen auf und versorgt mich mit einem Stapel Rezepte gegen Übelkeit, Verstopfung und Schmerzen samt Erläuterungen. Als letztes händigt sie mir in diesem Zusammenhang noch ein Rezept für eine Perücke aus. Meine Befremdung nimmt kein Ende. Lotti hingegen zeigt sich zu Hause begeistert: „Cool, wir holen Dir eine in pink!“ Ganz meine Tochter: Wir machen die Krücke zum Zepter!

Baron 5000 oder Die Suche nach Kohärenz

Wir alle kennen Hits wie Anneliese Braun oder Agathe Bauer, Axel Hacke hat mit seinem Weißen Neger Wumbaba und dessen Fortsetzungen gleich mehrere Bücher zum Thema verfasst. Hinter diesem Phänomen des Sich-Verhörens steckt nichts weniger als die unermüdliche Suche nach Kohärenz, das menschliche Bedürfnis nach Zusammenhang, Logik und Struktur. Wo wir etwas nicht verstehen, verleihen wir den Dingen selbst einen Sinn, und was nicht passt, wird passend gemacht.

Auch Lotti zeigte sich diesbezüglich in den letzten Jahren mehr als kreativ. So aß sie im zarten Alter von drei Jahren Mamarinen und Papasilie und schaute wahnsinnig gerne Dschungelbert (der Junge, der von Wölfen großgezogen wurde). An Silvester wollte sie Blech gießen, der zweite Heilige König nach Caspar hieß folgerichtig Seppl, und vorm Spiegel zog sie sich einen Seitenschädel. Leonardo der Winzling hatte nach Lottis Auffassung die Mona Lisa gemalt, und im Ferienlager mit christlichem Hintergrund wurde im Jahr der Fußball-Weltmeisterschaft 2014 die Geschichte von Jakob und Özil vorgelesen. Als sie sich einmal sehr über jemanden ärgerte, drohte sie: „Denen werde ich mal zeigen, wo die Wurst steht!!!“ All das verstand ich auf Anhieb. Nur als sie eines Tages hartnäckig von Baron 5000 und dessen Abenteuern in einer Zeichentrickserie sprach, stand ich recht lange auf dem Schlauch. Nachdem die Rede jedoch auf Lügen und Kanonenkugeln kam, konnte ich erleichtert lösen: Münchhausen!

Erniedrigte Zinsen und Transenkurse

Doch auch Lotti wird älter. Mittlerweile trinkt sie wahlweise Balthasar- oder Baldachintee und nimmt als Vesper gerne Ruckizucki (Chicorée) mit in die Schule. Mit großem Interesse verfolgt sie die Radionachrichten („Mama, die Weltbank hat die Zinsen erniedrigt!“), demnächst möchte sie unbedingt Die Tribüne von Panem sehen. In der baden-württembergischen Landeshauptstadt sind wir neulich die Weintraube hinuntergefahren, und an Fantas Hochzeit mit Herzog Ullrich durfte sie „bis morgens um zwei Rambo tanzen“.

Dass die Suche nach Kohärenz wohl niemals endet, belegen auch folgende Beispiele aus dem Bekanntenkreis. Bei einem Kaffeeklatsch bei Fanta berichte ich vom Besuch einer Vernissage, woraufhin unsere gemeinsame Freundin Amor interessiert fragt, was denn eine „Fernmassage“ sei. Und als Chéri und ich Geschichten von unserem Tanzkurs zum Besten geben, fragt eine der Ammertanten mit hochgezogener Augenbraue: „Was macht Ihr? Einen Transenkurs?“ Wir werden alle nicht jünger.

The Power of Less

Behalte, was dich glücklich macht!- Übrigens: Hotti trägt jetzt auch kurz (links im Bild)

Ferien! Nach einem bewegten Jahr (wir berichteten noch nicht) sehe ich freudig ein paar entspannten Tagen zwischen Nordmanntanne und den Heiligen Drei Königen entgegen, in denen ich mich – Gipfel des Hedonismus – ein kleines bisschen um mich selbst drehen kann, am Ende gar mit einem Buch auf der Couch. Wenn Du Gott zum Lachen bringen willst, mache einen Plan.

Weniger ist mehr

Einen Tag nach Weihnachten hält Hotti den Zeitpunkt für gekommen, den Gutschein für ihre Zimmerrenovierung (Streichen und neuer Teppich), den sie zum 15. Geburtstag bekommen hat, einzulösen. Sie beginnt mit Ausmisten, kann sich aber aufgrund ihrer Lebensphase zwischen den Welten nicht von liebgewonnener Materie trennen: Was tun mit den ersten selbstgenähten Herzchenkissen, der gemeinsam auf dem Flohmarkt erworbenen Sahne-Muh-Muh-Spardose in Milchkannenform oder der Lieblingsjeans, in die die heranwachsenden Kurven beim besten Willen nicht mehr reinpassen? Als gute und nicht ganz uneigennützige Mutter gebe ich dem ratlosen Teenager einen Artikel über Minimalismus – Drei Methoden für Einsteiger zu lesen, nicht zuletzt in der Hoffnung, dass erstens jede Menge Kinderkruscht vergangener Tage endlich unsere Wohnung verlässt und dass ich durch die Selbstbeschäftigung des Kindes zweitens ein paar Stunden Zeit für mich, das Buch und die Couch rausschinde.

Hot or not?

Hotti bedankt sich artig und schwirrt ab. Da steht Lotti auf der Matte, die, wie üblich in den Ferien, in einem Loch aus Langeweile und Strukturlosigkeit versinkt und fragt, was sie „ma‘ machen“ kann. Da ich keine Lust auf Brettspiele habe, antworte ich ebenso lächelnd wie berechnend: „Liebes Kind, hier, lies diesen großartigen Artikel über Minimalismus, Hotti liest den auch gerade, das schadet Euch gar nichts!“ Kurz danach geht es rund: Hotti und Lotti schleppen unermüdlich Berge von Spielzeug, Klamotten, Büchern, Bastelperlen und Müll aus ihren Zimmern, die sie, in Ermangelung von Kisten, im Flur, in der Küche und schließlich in meiner Acht-Quadratmeter-Residenz abladen. Sie übertrumpfen sich gegenseitig, wer besser loslassen kann, dazwischen rufen sie euphorisch Sätze wie „BOAH KRASS, was man alles nicht braucht!“ und „EY, ich behalt nur noch, was mich ECHT GLÜCKLICH macht!“ Während Lotti mir dabei alle paar Minuten Sachen vor die Nase hält, die eine Entscheidung verlangen – Hot or not? Gehen oder bleiben? – schaufelt die große Schwester alles, was sie ECHT GLÜCKLICH macht, rüber in Lottis Zimmer, um Platz zu schaffen für die Renovierung und fließende Energie. Genau so geht das die nächsten Tage weiter. Kisten gibt es immer noch keine („EY, ich geh‘ doch nicht RAUS!“), alles fliegt herum, unsere Wohnung gleicht einer Messie-Bude vom Feinsten, Hotti und Lotti hausen, schlafen und zanken nun gemeinsam in Lottis Chaoszimmer, an Hedonismus ist nicht zu denken. Immerhin hilft der Hotti-Lotti-Papa (HLP) tatkräftig auf der Baustelle und baut das Hochbett ab und um.

Rome wasn’t built in a day

Beim Streichen des künftigen Feng-Shui-Tempels bekommen Hotti, Lotti und ich uns vollends in die Haare, und als wir den Teppich rausreißen, prangt dort, wo der scheinselbstständige Teenager gerne seine nassen Handtücher auf den Boden zu werfen pflegt (Hotti: „EY, das hab‘ ich schon voll lang nich‘ mehr gemacht!“), ein nicht unbeachtlicher Schimmelfleck. Da Hotti nun erst mal auf eine Freizeit fahren und der Schimmel ohnehin tagelang besprüht werden muss, kommt es zum Baustellenstopp. Unsere Wohnung gleicht nun einer Messie-Bude vom Feinsten mit Chlorgeruch, Buch und Couch habe ich längst abgeschrieben, aber wie sagt der Buddhismus unter anderem? Wenn Du es eilig hast, geh langsam. Gut Ding will eben Weile haben, und Rom wurde auch nicht an einem Tag gebaut.

Die erste Schulwoche ist nun vorbei und Ansätze von zeitlicher und räumlicher Struktur kehren allmählich zurück. In unserer Messie-Bude stinkt es zwar immer noch nach Hallenbad, und Hotti schläft nach wie vor in Lottis Zimmer, wo sich Szenen wie im Tatort abspielen, aber die Teenie-Baustelle verzeichnet mittlerweile deutliche Fortschritte: Der HLP hat Laminat verlegt (aus hygienischen Gründen haben wir uns gegen Teppich entschieden), und er sagt, dass „das alles in zwei, drei Tagen fertig“ sei. Genau. Stuttgart 21 sowie der Berliner Flughafen sind schließlich auch kurz vor der Vollendung, und die Erde ist eine Scheibe.

Zirkusmutti

ZirkusmuttiVier alle haben ein neues Hobby: den Lingendinger Kinder- und Jugendzirkus Cannelloni, der an zwei Wochenenden im Frühjahr mit seinem Programm das Publikum beglückt. Glanz und Glamour bleiben dort per definitionem zwar nur den Heranwachsenden in der Manege vorbehalten. Aber auch die Eltern, Geschwister und sonstigen Angehörigen mit zu viel Zeit und Enthusiasmus dürfen sich jenseits von Ruhm und Rampenlicht nach Strich und Faden selbst verwirklichen. Während Hotti also am Trapez baumelt, Flugrollen macht und als Piratin mit Pois herumfuchtelt, entfalten Chéri und ich uns unter anderem am Kuchen- und Würstchenstand. Da Lotti noch zu jung für die Manege ist, aber bereits mit den Hufen scharrt, macht sie derweil mit anderen Geschwisterkindern in der Warteschleife Karriere im Popcornverkauf.

Auch ansonsten bietet der Zirkus unzählige Betätigungsfelder und Gewerke, bei denen sich die Familien zu ungeahnten Höchstleistungen aufschwingen können. So glänzen manche Eltern beim Frittieren von Langos, andere entfalten sich beim Lose-, Getränke- oder Kartenvorverkauf oder entdecken ihre Leidenschaft für das Auf- und Zuziehen der Theatervorhänge während der Vorstellungen. Wieder andere entpuppen sich als passionierte TontechnikerInnen, MaskenbildnerInnen, Sicherheitsbeauftragte oder Spendendosenbastler. Eine Großgruppe brilliert bei der Artistenverpflegung, ein anderes Team poppt Popcorn bis zum Exzess, und das Zirkusorchester, selbstredend bestehend aus Eltern, gibt ohnehin immer das Letzte. Dass die Zirkus-Community eine Zeitung herausgibt, die Requisite bastelt und das tonnenschwere Zirkuszelt selbst auf- und abbaut, versteht sich von selbst. Eine Zirkusmutter bringt es folgendermaßen auf den Punkt: „Du verabschiedest dich im Februar von deinen Freunden und hoffst, dass sie im Juni noch da sind.“ So ähnlich würde ich das auch unterschreiben: Wer uns im Frühjahr sehen will, kommt auf den Zirkusacker.

Nach zwei Aufführungswochenenden mit Blut, Schweiß, Tränen, Matsch, Erkältung und Adrenalin sind wir tot, aber glücklich. Ich habe keine Ahnung, wie die anderen Zirkusfamilien die Pfingstferien verbringen – wir schlafen.

P.S.: Hier eine sehr nette kleine Reportage der Lingendinger Studierenden Anna Schaden, Katrin Gildner & Sebastian Gabler (Klarnamen-Alarm!!!) über den Zirkus Cannelloni und sein diesjähriges Programm „Schrottkompott“:

Auf die Pferde!

Wichtige Information vorab

Da Wolverine aka Batman sich im Laufe der vergangenen 23 Monate zum Herzallerliebsten der aktuellen gefledermausert hat, wird er im vorliegenden Veröffentlichungsmedium hinfort nicht mehr als Wolverine auftreten, sondern nunmehr und für alle Zeiten als: Chéri (le vrai). Nur dass hier keine Missverständnisse aufkommen.

Aussichtsreiche Radtouren, herrliche Naturlandschaften

In den letzten drei Tagen machen es sich David Hasselhoff und Pamela Anderson an der Slipanlage gemütlich.

In den letzten drei Tagen machen es sich David Hasselhoff und Pamela Anderson an der Slipanlage gemütlich.

Für die Pfingstferien habe ich mir für unsere entzückende kleine Patchworkfamilie etwas ganz Besonderes ausgedacht: pädagogisch und sportlich wertvolle Radtour zum Podensee, schnuckeliger Bauernhof mit zauberhaften Tierchen (Ponyreiten), aussichtsreiche Touren in herrlichen Naturlandschaften. Mir schwebt ein Urlaub vor, an den vier alle noch im hohen Alter denken werden. Werden wir womöglich auch. Chéri, der bei uns für die Realität zuständig ist und als professioneller Familienhelfer mit der Lizenz zur Freizeitgestaltung glücklicherweise über einige Erfahrung in sozialer Gruppenarbeit verfügt, stutzt das von mir erstellte Programm auf Kindermaße zurecht, setzt ein Zugticket für die erste und schlimmste Etappe durch und verhindert so im Vorfeld womöglich den einen oder anderen Kreislaufzusammenbruch.

Radeln und maulen

Am Bahnhof wirft Lotti erst mal ihr Fahrradschloss auf die Gleise unter den Zug, und weil wir auf Reisegold verzichtet haben, muss sie sich aufgrund der Neigetechnik übergeben. Nach vier Minuten Radeln hat Lotti einen Stein im Schuh. Beide Damen klagen über Mückenstiche und darüber, dass das Kühlgel zu Hause vergessen wurde. Ich empfehle Spucke für die Stiche und verweise darauf, dass es „bei uns“ schließlich auch kein Kühlgel gegeben habe. Lotti kontert, dass sie und ihre Schwester „ja auch nicht aus dem 19. Jahrhundert“ kämen. Nach zwanzig Minuten haben sie keine Lust mehr auf Radfahren und fangen an zu maulen.

So geht es weiter, tagelang. Wir radeln und sie maulen. Auf unserem Bauernhof in Daisydorf, der auf einem steilen Berg außerhalb der Zivilisation liegt, gibt es keine zauberhaften Tierchen, Ponyreiten auch nicht. Außerdem wollen die Grazien lieber eine Villa am See, von wo aus sie direkt zum Shoppen oder Schwimmen können. Als zutiefst überraschend und ungerecht wird zudem empfunden, dass man selbst im Urlaub seinen Teller abräumen muss. Halte ich anfangs gut gelaunt die Schaut-doch-mal-wie-schön-das-hier-alles-ist-Fahne hoch, werfe ich den Damen schließlich bar jeder Contenance vor, dass ich mir das alles aber echt anders vorgestellt hätte und dass ich dachte, sie würden sich freuen – über so einen tollen Radurlaub. Und so. Das Gewitter hilft kurzfristig und sie heucheln sportlichen Ehrgeiz sowie aufrichtiges Interesse an den herrlichen Naturlandschaften.

Freilaufende Riesengehirne

Horrorhasen im Haustierzoo: Streicheln, lachen, staunen.

Horrorhasen im Haustierzoo: Streicheln, lachen, staunen.

Aber es ist nicht alles schlecht. So radeln wir in Ermangelung putziger Tierchen auf dem eigenen Bauernhof in den nächsten Streichelzoo („Streicheln, lachen, staunen“), essen Schnitzel und Lotti entdeckt freilaufende Riesengehirne. Wir schaffen es, die hässlichsten Rastplätze der Welt auszumachen, und Chéri überrascht mich, indem er nicht nur den Radprofi und Routenplaner, sondern auch den Klugscheißer in sich auspackt: Bergauf, bergab referiert er über Höhenmeter, Kraftumsetzung, Hebelwirkung sowie diverse geografische Gegeben- und Besonderheiten („Rhein rein, Rhein raus!“). Wir beobachten Störche und Fledermäuse, zählen Kuhherden und Mückenstiche, überfahren die Schweizer Grenze und besuchen Horny Tawny in ihrer neuen Zwangsheimat.

In der zweiten Wochenhälfte macht dann endlich eine Hitzewelle alleine den Gedanken an jede größere Tour obsolet. Wir lassen uns drei Tage im Strandbad nieder, stopfen uns mit Eis und Pommes voll und bewachen als Baywatch-Team von der Slipanlage aus Hotti und Lotti, die stundenlang kreischend vom Sprungturm in den See hüpfen. David Hasselhoff lässt sich gar zu einer Runde Schweinchen-in-der-Mitte herab. Und am Ende der Woche treibt es mir nahezu die Tränen in die Augen, als Hotti und Lotti sagen: „So schlimm war es gar nicht.“

Nachklapp

Als uns nach unserem Urlaub Hottis Freundin Annika besucht und ich sie frage, ob sie und ihre Familie nicht auch mal mit den Rädern zum Podensee gefahren wären, antwortet sie mit Grabesstimme: „Ja, wir mussten das auch mal machen.“

Metakind

Hotti steht über den Dingen.

Hotti steht über den Dingen.

Dass Hotti irgendwie über den Dingen steht, ahne ich erstmals, als sie mit zweieinviertel Jahren (damals zählte man noch die Jahresviertel mit) beschließt: „Ich werde immer größer, und dann trinke ich Kaffee und Sahne und Zucker!“ Bis dahin war sie recht dinglich und materieverhaftet wie jedes andere Kleinkind auch: Sie brabbelte, krabbelte, sabberte, lachte, tobte, nuckelte an ihren Füßen, aß tonnenweise Sand oder weckte mich, indem sie mir morgens liebevoll den Wecker ins Gesicht schlug. Sie nuckelte am Fußspray ihres Vaters, versenkte Spielzeug in meinem Kaffee und die Zahnpasta in der Toilette. Zuhause wickelte sie ganze Klopapierrollen ab, während sie im Schwimmbad auf die Wiese kackte und sich damit ordentlich einschmierte. Sie fiel vom Wickeltisch, kippte sich Joghurt über den Kopf und Waschpulver ins Gesicht, woraufhin ich mit Fanta schließlich einen Erste-Hilfe-Kurs für Kleinkinder an der Lingendinger Familienbildungsstätte besuchte.

„Du bestimmst nicht, was ich mache!“

Das zweite Mal werde ich auf die Neigung meiner Erstgeborenen, Dinge aus der Metaperspektive zu beschreiben, aufmerksam, als sie mir, etwa ein Vierteljahr später, um den Hals fällt und jubelt: „Ich bin eine Kraft!“ An ihrem ersten Tag im Kindergarten (die Erzieherinnen und ich hatten uns selbstverständlich auf eine ausgiebige und pädagogisch extrem wertvolle Eingewöhnung verständigt) schickt Hotti mich nach fünfzehn Minuten heim: „Du kannst jetzt gehen.“ Und als Lotti, ihre kleine Schwester, das Licht der Welt erblickt, konstatiert Hotti, nun drei: „Die Lotti is meine Freundin, gleich von geborn an.“ Kurz darauf findet sie allerdings: „Dass Du die Lotti stillst, ist für mich zu nervig.“

Um ihren vierten Geburtstag herum quittiert sie eine Aufforderung meinerseits, erst fertig zu essen und dann aufzustehen, mit den Worten: „Du bestimmst nicht, was ich mache!“ Und als die eineinhalbjährige Lotti tobt und kreischt, weil sie sich partout nicht anziehen lassen will, erklärt ihr Hotti, mittlerweile viereinhalb, das Prinzip Inkarnation und damit verbundene Widrigkeiten: „Ja, Lotti, so ist das, wenn man zu einer Mama geht, bei der man bleiben muss!“ Stutzig werde ich auch, als ich das Buch Gibt es intelligentes Leben? geschenkt bekomme, Hotti mich nach dessen Titel fragt und daraufhin stöhnt: „Ääähh, dann brauche ich mir das gar nicht anschauen.“

„Gott ist tot!“

Ihre Vorliebe für Abstraktion stellt sie ebenfalls nachdrücklich unter Beweis, als sie kurz vor ihrem fünften Geburtstag getauft werden soll. Als waschechte Lingendinger Übermutter versuche ich, Hotti dieses bedeutsame Ritual kindgerecht zu erklären, woraufhin sie mich anschaut, als hätte ich vollkommen den Verstand verloren, und erwidert: „Aber Mama – Gott ist tot!“ Bald darauf, es ist mittlerweile Herbst, erkennt sie: „Du ziehst uns doch nur so warm an, weil dir selber dauernd kalt ist.“ Und mit fünfeinhalb Jahren kommt sie schließlich zu folgendem Ergebnis: „Menschen sind komische Teile.“ Auf meine Nachfrage, was genau sie meine, entgegnet sie: „Na, wenn Außerirdische Menschen angucken, finden die die Menschen bestimmt voll komisch. So, wie die aussehen, und was die für komische Sachen machen.“

Nach Vollendung ihres sechsten Lebensjahres wiederum erklärt mir Hotti wutentbrannt: „Du behandelst mich wie ein Baby, obwohl ich schon so groß bin! Du sollst mich nicht immer rumerziehen wie ein Baby und sagen ,Hotti, tu dies, Hotti, tu das!‘ – Ich will über mich selbst bestimmen!!!“ Mit acht Jahren muss sie bereits über sich selbst lachen: „Ich habe mir ja mal Weltfrieden gewünscht. Dabei streite ich mich ja selber dauernd mit der Lotti – HAHA!“ Und mit zehn lobt sie sich selbst beim Ausmisten ihres Zimmers: „Ich bin stark, weil ich loslassen kann.“

„Ich habe ja kein Problem mit dem Wolvi…“

Und dann steht plötzlich Wolverine mit Blümchen vor unserer Tür und partizipiert zunehmend an den Gepflogenheiten unseres Hofes. Das Metakind, mittlerweile zarte zwölf, is not amused: „Ich habe ja kein Problem mit dem Wolvi, den kenne ich ja gar nicht. Aber ich habe ein Problem mit der Rolle, die er hier einnimmt.“ Das Ganze wirft sie offensichtlich einigermaßen aus der Bahn, denn bald fragt sie ihn entgegen ihrer sonstigen Gewohnheiten, bei einem offiziellen Kaffeekränzchen mit Tante Janeway, ganz konkret: „Willst du meine Mama eigentlich heiraten?“ Glücklicherweise findet sie schnell zu ihrer alten Form zurück. Als sie sich hinter abgeschlossener Badezimmertür die Augenbrauen fast vollständig und vollkommen ungleichmäßig auszupft und ich ihr dafür gehörig die Ohren lang ziehe, lächelt sie kokett und kontert: „Mama, ich bin halt in der Vorpubertät, da muss man alles mal ausprobieren.“ Zudem hat sich ihr jüngst der Daseinszweck ihrer aktuellen Inkarnation offenbart: „Ich weiß jetzt, was ich hier will: Weltreisen! Menschen beobachten und berühmte Denkmäler und so anschauen!“

Lotti, die grundsätzlich eine eher stoffliche und konkrete Art mit sich bringt, zeigt übrigens neuerdings ebenfalls Ansätze von Metagebaren. Neulich rennt sie mir am Wochenende um 7 Uhr 30 mit folgender Forderung die Schlafzimmertür ein: „Ich brauche Struktur!“

Der König der Scheißtage

Was bisher geschah: Nach einem psychosozial mehr als herausforderndem Sommer gelang es Hotti, Lotti und mir, uns gerade noch rechtzeitig in die Mutter-Kind-Kur nach Kloßburg abzusetzen. Oma Highspeed flog uns mit ihrem Silberpfeil direkt vor die Pforten des Müttergenesungswerkes, wobei wir lediglich einmal geblitzt wurden, und bevor Lotti Highspeeds neues Fluggefährt in den Serpentinen des Schwarzwaldes bis oben hin vollkotzten konnte, gelang es uns in letzter Sekunde, links ranzufliegen und die Tür zu öffnen, eine glückliche Fügung jagte quasi die nächste. Im Erholungsparadies angekommen, taten wir drei Wochen mit wenigen Ausnahmen von morgens bis abends wenig anderes als zu schlafen, zu essen, im Wald herumzuturnen und unsere sechzig Finger- und Fußnägel rauf- und runterzulackieren.

Entsprechend hart gestaltet sich nun der Aufschlag in der Realität. Seit geschlagenen zwei Wochen ringen wir in der irdischen Welt mehr oder weniger erfolgreich mit Weckern, Stundenplänen, Jahresberichten, Supermärkten, GEZ-Gebühren und Sitzungen. So ende ich nach einem Tag in der Öffentlichen Anstalt mit beeindruckenden 18 Tagesordnungspunkten auf einem dreieinhalbstündigen Hotti-Elternabend. Angesichts der uns bevorstehenden 15 TOPs raune ich Hanutas Mutter ins Ohr, dass wir uns unbedingt ein Radler hätten mitnehmen sollen, woraufhin ich einen leicht irritierten Blick ernte.

Lebendig an der Forschung teilnehmen

Zunächst stellt sich kurz und knackig der neue Konrektor vor, nachdem die alte Schulleitung sich zum vorigen Schuljahresende überraschenderweise quasi selbst abgeschossen hat. Anschließend stellt sich eine sehr junge und motivierte Frau vor, die sich dem „Analysieren der Prozesse im Rahmen der Entwicklung / Implementierung zur Gemeinschaftsschule“ verschrieben hat, Begleitforschung heißt das Zauberwort, das sie Eltern- und Lehrerschaft nun in einer ausschweifenden Powerpoint-Präsentation unterbreitet inklusive Phasen, Dauer, Zielsetzung, Maßstäben und Teilprojekten ihres Forschungsvorhabens. Zusätzlich erfahren wir, was die junge Motivierte alles nicht untersucht, nämlich Leistung, Kompetenzentwicklung sowie die SchülerInnen und Lehrkräfte als solche, schließlich gehe es ihr um pädagogische Professionalität, Unterrichtsorganisation und -kultur und natürlich Inklusion. Ihre gebündelten Ergebnisse werde sie als verschriftlichtes Reflexionsinstrument an die Politik weiterleiten, der damit wiederum fundiertes Steuerungswissen für die laufende Schulreform zur Verfügung stehe. Ein Vater meldet sich und bekundet, dass er es schön und besonders finde, so „lebendig an der Forschung teilzunehmen.“ Ich denke an den heutigen Facebook-Post von Horny Tawny „Heute regiert der König der Scheißtage.“, behalte dieses Bonmot jedoch für mich.

Be prepared!

Es folgt ein spontan eingeschobener Tagesordnungspunkt, in dem es um schulpolitische Interna der Vergangenheit geht, die laut referierendem Vater allerdings in schlappen fünf Minuten abgehandelt werden können. In der 14. Minute erinnert mich Hanutas Mutter daran, dass wir beim nächsten Mal keinesfalls das Radler vergessen dürfen, am besten zwei für jede. In der 20. Minute, in der es noch immer um das schulpolitische Inferno geht, beginnt mein Auge zu zucken. In Minute 30 wird auf Seiten der Elternschaft massiv der Wunsch nach mehr Transparenz und Demokratie laut, ich versenke mich innerlich in Felsen, Wasserfälle, esoterische Meditationsmusik und mein Bett. Nach diesem die Gemüter erhitzenden Punkt geht es im wilden Ritt weiter durch Schullandheimausflüge, Projektwochen, Elternvertreterwahlen, Herbstfeste sowie Rückmeldungen der Lehrerschaft über die allgemeine Verfassung von Hottis Klasse, die die Englischlehrerin euphemistisch als „diskussionsfreudig und interessant“ bezeichnet. In diesem Zusammenhang zeigen sich die Lehrkräfte in diesem Schuljahr extrem gut vorbereitet. Haben die lieben Kleinen beim Schwimmunterricht beispielsweise zufällig ihre Badehose vergessen, wird mit einer ebenso zufällig vorhandenen Tasche mit alter Bademode gekontert. Und auch dem Ungemach, das in Form zahlreicher Baustellen rund um das Schulgelände droht, begegnet die Klassenleitung mit gänzlich neuer Gelassenheit: Sie werde künftig mit dem Hubschrauber einfliegen. Nur mit dem Besen anreisen wäre cooler.

Der Albtraum nach Weihnachten

Nach maximal lässigen Feiertagen in Neukamerun streckt uns die Realität zurück in Lingendingen erbarmungslos zu Boden. Als erstes geben die Wasserrohre in unserem Mehrfamilienhaus den Geist auf, literweise ergießt sich über die einst von Dr. Sprite und Santa Claus geerbte Traditionsspülmaschine Dreckbrühe in Küche und Wohnzimmer. Ich organisiere den zuständigen Klempnernotdienst, der Retter naht bald, ich schicke ihn unter die Spüle. Als nächstes gibt Hotti den Geist auf, sie läuft zwar nicht aus, dafür klappt ihr Kreislauf zusammen, sie bekommt hohes Fieber und klagt über Halsschmerzen und Übelkeit. Ich schicke sie mit dem neuen MP3-Payer aufs Sofa, Lotti schreit, ihr sei langweilig und sie wolle jetzt The Nightmare before Christmas schauen, gedanklich schicke ich sie auf den Mond. Für meinen Geschmack ist der Albtraum nach Weihnachten schon jetzt perfekt, aber Kinder haben ja eine ganz eigene Vorstellung von Wahnsinn.

Ölverklebte Wasservögel verenden in meiner Küche

Jetzt meldet sich der Heilsbringer in der Küche mit seiner Diagnose zu Wort. Er verkündet, dass über all die Jahre Öl, Fett, Essensreste und sonstiger Schlonz die Wasserrohre im Haus verstopft haben, so dass sich das Abwasser der oberen vier Stockwerke ab heute aufgrund des Rückstaus durch meine Spülmaschine Bahn bricht. Mit einer sieben Meter langen Metallspirale bohrt der Gute den Schlonz aus den Leitungen, allerdings ohne einen Eimer unterzustellen, schwallartig schießt die klebrige, teerähnliche Masse aus dem Rohr in meine Küche. Vor meinem inneren Auge erscheinen sterbende Wasservögel, die einer Ölpest zum Opfer gefallen sind. Lotti schreit, sie wolle jetzt den Film sehen.

Das Gerät ist zu kurz

Nach zwei Stunden jammert der Klempner, sein Gerät sei leider zu kurz, er schicke morgen den Kollegen mit dem längeren Gerät vorbei. Er tut mir leid, ich denke, für einen Mann und Handwerker ist es nicht schön, Derartiges einzugestehen. Deprimiert zieht er ab. Lotti schreit, sie wolle verdammt noch mal jetzt den Film sehen, Hottis Fieber überschreitet mittlerweile die 39°-Celsius-Marke, sie sieht inzwischen selbst aus wie die Hauptfigur in Tim Burtons Weihnachtsgruselfilm. Da wir uns jedoch im infrastrukturellen Vakuum zwischen den Jahren befinden, haben sämtliche Lingendinger Kinderarztpraxen geschlossen, und die diensthabende Notärztin ist derart mit kollabierenden Erwachsenen überlastet, dass sie uns unmöglich konsultieren kann. Also lagere ich Lotti zu einer Freundin aus und fahre zwanzig Kilometer über Land zum nächsten Kindernotdienst, wo wir uns während zwei Stunden Wartezeit etwa fünfzig neue Krankheitserreger einkaufen. Wir tauschen mit Streptokokken, Hotti hat Scharlach. Damit sind Lottis Kindergeburtstag übermorgen sowie die geplante Silvesterparty gestorben. Als ich spätabends Lotti von der vermutlich nun ebenfalls infizierten Gastfamilie abhole, schreit sie, sie wolle noch heute Abend den Film sehen. Ich traue mich nicht, sie über die gestrichenen Festivitäten zu informieren.

Endlich: Praxisgebühr entfällt!

Am nächsten Tag habe ich Hals- und Kopfschmerzen und bin schlapp, Lotti ist übel. Der Klempnerkollege mit dem längeren Gerät kommt und veranstaltet eine neuerliche Ölpest in meiner Küche. Als er geht, ist das Wasserrohr wieder frei und die Spülmaschine kaputt. Dafür tropft es nun auch unter der Spüle. Hotti vegetiert weiter mit dem MP3-Payer auf dem Sofa vor sich hin und verteilt Streptokokken, Lotti ist bleich, will aber trotzdem den Film sehen und ich weiß nicht, ob ich töten oder sterben will. Ich entscheide mich für einen Kompromiss und verdonnere den Hotti-Lotti-Papa dazu, gefälligst den Geburtstagskuchen für seine Zweitgeborene zu übernehmen. Abends schauen wir den Film, Lotti findet ihn doof.

Am Tag vor Silvester sitzt ein in Tränen aufgelöstes Geburtstagskind vor einem geschmückten Tisch ohne Kuchen, Vater und Gäste. Lotti wird süße sieben, der HLP hat mit dem Kuchen verschlafen, wir alle sind krank, so einen bescheuerten Geburtstag hat es im Hause aktuelle selten gegeben. Und am letzten Tag dieses glorreichen Jahres hat dann schließlich doch noch die diensthabende Notärztin ihren großen Auftritt bei uns, sie überreicht uns zwei Rezepte für Antibiotika und sagt, dass es ihr herzlich leid tue, aber heute müsse sie uns noch die zehn Euro extra Notarzt-Praxisgebühr berechnen. Ab nächstem Jahr komme sie dann kostenfrei. Da bin ich aber froh.