Beim Eingangsgespräch mit zwei Ärztinnen und einer Krankenpflegerin werde ich direkt auf dem Stuhl gewogen, auf dem ich sitze (fancy!), und man bohrt mir eine kapitale Nadel in den Port. Dann bekomme ich eine Führung durch die heiligen Hallen: Es gibt drei Räume mit jeweils etwa fünf Plätzen. Die gepolsterten Liegen sehen sehr bequem aus, dank geheimer Top-Informationen der Huberin weiß ich auch schon, dass diese individuell verstellbar sind. Für die Gemütlichkeit gibt es Kuscheldecken. Neben jeder Liege wiederum steht ein mobiler Infusionsständer, mit dem frau bei Bedarf auf Tour gehen kann (viel trinken = viele Toilettengänge). Es gibt einen großen Balkon, und da wir uns im sechsten Stock befinden, eröffnen sich mir buchstäblich königliche Aussichten in Richtung Osterberg und Schloss Hohenlingendingen.
Vergiftung mit Ansage
Dann geht es los. Insgesamt werden mir nacheinander etwa zehn verschiedene Flaschen, Päckchen und Tabletten verabreicht: Kochsalzlösung, Epirubicin (Pfleger: „So, jetzt gibt’s Aperol Spritz!“), Zuckerwasserlösung, Cyclophosphamid sowie irgendwas gegen Blasenentzündung, Übelkeit und anderes drohendes Ungemach. Ich unterhalte mich mit ein paar Frauen, zu meiner Überraschung schimpfen alle wie die Fuhrknechte: „So ein Scheiß!“ – „Braucht kein Mensch!“ – „Wem sagen Se des?!“ Ich fühle mich sofort zu Hause. Um zehn Uhr rollt eine Stewardess mit Snackwägelchen herein und verteilt Käsebrötchen, Joghurt, Äpfel und Tee. Dann löse ich ein paar Kreuzworträtsel, klinke mich mit Hottis Kopfhörern vom Weltgeschehen aus und widme mich meinen Playlists. Um zwölf ist alles vorbei, meine Kutsche fährt vor und bringt mich heim.
Zu Hause ist zunächst auch noch alles ok, Schlag drei Uhr geht es dann rund: Kopfschmerzen, Übelkeit, Wackelbeine, Schwäche. Ich vegetiere und stiere vor mich hin, trinke gefühlte zehn Liter am Tag und döse immer wieder weg. Die nächsten fünf Tage fühlen sich an wie eine üble Alkohol- oder Lebensmittelvergiftung inklusive heftigem Kater. Nachts verschwitze ich jeweils zwei komplette T-Shirts, die stinken wie Sondermüll. Meine Leber und Nieren arbeiten auf Hochtouren, derartige Strapazen mussten sie seit meiner Pubertät nicht mehr bewältigen. Ein Gedanke hält mich unterdessen bei der Stange: Mir geht es vielleicht dreckig – dem Tumor geht es dreckiger. Mit dem will gerade wirklich niemand tauschen.
Heulen und Zähneklappern
Auch mein Geschmackssinn läuft ziemlich aus dem Ruder, Reminiszenzen an die beiden Schwangerschaften werden wach. Super sind: Sauerkonserven, Colamix, Gurke, Zwiebel, Brokkoli, Salat, Kräutertee, Pizza Napoli, purer Reis, Döner. Chéri sowie der Hotti-Lotti-Papa (HLP) karren abwechselnd Limo, Säfte, eingelegten Selleriesalat und vieles mehr heran. Geht doch nichts über guten Service und eine ausgewogene Ernährung!
Am zweiten Abend soll ich mir eine Spritze geben, die die Bildung der roten Blutkörperchen anregt. Dies wiederum passiert im Knochenmark und kann mit ziemlichen Schmerzen in den Knochen verbunden sein. Ich sterbe vor Angst und bestelle die Ex-Schwester ein. Unter Heulen und Zähneklappern werfe ich prophylaktisch eine Schmerztablette ein, während Ma Baker mir professionell die vermeintliche Untergangsinjektion in ein Bauchspeckröllchen spritzt. Darüber hinaus muss Chéri zum Übernachten kommen, ich befinde mich in äußerster Alarmbereitschaft. Um es abzukürzen: Es passiert so gut wie nichts. Beruhigt halte ich fest, dass offenbar nicht jede angekündigte potenzielle Nebenwirkung eintreten muss.
Wir schaffen das!
Stattdessen blüht mir andere Unbill. Da bei einer Chemotherapie nicht nur die Krebszellen, sondern auch alle möglichen anderen Zellen, die sich schnell teilen (Haare, Nägel, Schleimhäute, rote Blutkörperchen…), zum Teufel gehen, verabschiedet sich nach drei Tagen meine Mundschleimhaut: Ich habe Zahnfleischbluten und jede Menge kleine Entzündungen. Bei jedem Bissen gehe ich vor Schmerzen die Wände hoch, sodass ich mir schließlich Müslibrei kaufe und das restliche Essen püriere. In der Apotheke erstehe ich ein regenerierendes Gurgelgel, „von Onkologen empfohlen“. Der Apotheker nutzt meine aktuelle Labilität, um mir direkt noch einen Packen Darmbakterien anzudrehen. Nach sechs Tagen im zytostatischen Vollrausch ist der Spuk schließlich vorbei. Ich bin sehr beeindruckt von der Ausnüchterungsleistung meines Körpers und überzeugt: Wir schaffen das!