Bombenstimmung

Sonntagmorgen, 7 Uhr, die Sonne scheint durch die Rollladenritzen, ich habe kinderfrei, ich kann nicht mehr schlafen, mir ist schlecht, alles tut weh, ich mag nicht aufstehen, und ich will auch sonst nichts machen und „schöne Sachen“ schon gar nicht, nicht joggen, nicht Kaffee trinken, nicht Zeitung lesen, nicht Verabreden, keinen Spaziergang, keine Radtour und erst recht nicht „in die Sonne“. Ich bin: alt, böse, hässlich, leer, taub, stumpf, schwarz, krank, tot. Reicht das, um sich die nächsten 70 Jahre krank schreiben zu lassen und die Außenwelt nicht mehr betreten zu müssen? Den Rolladen ganz herunterzulassen schaffe ich nicht, also verschwinde ich unter der Decke. Vermutlich ist es nur eine Frage der Zeit, wann ich beim nächsten Sonnenstrahl zu Staub zerfalle und doch noch von Bier auf Blut umsteigen muss.

Isolierte Irre mit 32 Katzen

Wenn es einem dauerhaft, sagen wir mal ganz euphemistisch, nicht so prickelnd geht, fragt man sich ja schon, wie lange das Umfeld das so mitmacht. Oder um es mit einem sehr treffenden Tweet zu sagen: Da ist man mal zwei, drei Jahre mies drauf, und schon ist man die mit der schlechten Laune. (aufgeschnappt auf der re:publica, Verfasserin mir leider unbekannt) Abgesehen davon will man sich ja bei seinen FreundInnen auch überhaupt nicht mehr blicken lassen, weil man befürchtet, dass einem Kröten, Spinnen, Schlangen und andere hässliche Dinge aus dem Mund fallen, sobald man ihn aufmacht. Man will auch keine glücklichen Familien sehen, die sich sonntags nicht verabreden, weil sie da „immer was als Familie“ machen, oder engagierte Väter, die die lieben Kleinen auf dem Weg zur Arbeit im Kindergarten absetzen („sonst sehen wir uns den ganzen Tag nicht“), man will nichts hören von Großeltern, die einspringen, wenn’s „finanziell oder zeitlich eng“ wird, und beziehungstechnische Erfolgsgeschichten („mein Mann sagt/macht/kann ja immer…“) sind das Allerletzte, was man hören will (Probleme und Katastrophen gerne). Gut, das schränkt dann den Gesprächsradius schon etwas ein, und weder in der neuen Heimat, die aus lauter Rama-Familien zu bestehen scheint, noch auf der Arbeit, wo Kollegen heiraten und zusammenziehen, macht man sich mit einer solchen Haltung dauerhafte Freunde. Man wird zur kommunikativen Zumutung. Mit viel Glück behält man seinen Arbeitsplatz und endet nicht als isolierte Irre mit 32 Katzen in der Wohnung, die ein Jahr nach ihrem Tod verwest in ihrer Wohnung aufgefunden wird, weil die Nachbarn plötzlich gemerkt haben, dass es etwas streng riecht.

Aber jetzt nicht den Teufel an die Wand malen, immer schön im Hier und Jetzt bleiben. Aber jetzt ist verdammt lang, wenn es einem schlecht geht, und die Zeit vergeht ja irgendwie auch gar nicht, wenn man darauf wartet, dass alles endlich besser wird. Stellt sich also die Frage: How long is now? Und draußen toben der Frühling, das Leben und eine Million widerliche Verliebte. Pfui Teufel, kann man da nur sagen. Naja, Kopf hoch, der nächste Winter kommt bestimmt, und dann bin ich die mit der Bombenlaune.

re:publica 2011 and beyond

Tag 1
Berlin, Berlin, wir (Dr. Sprite und ich) fahren nach Berlin, und zwar zur großen Konferenz über Blogs, soziale Medien und die digitale Gesellschaft, die re:publica 2011. Auf dem Weg zum Flughafen bricht allerdings mein Herz endgültig auseinander, weil der Bus plötzlich und unerwartet in den Unwahrscheinlichkeitsdrive gerät und fünfzig Minuten durch die Hölle statt durch den Schönbuch fährt, und ich versteinere. Mein tiefster Dank gilt an dieser Stelle Dr. Sprite, die meine Überreste an Terminal 2 zusammenkratzt, souverän die Führung übernimmt und mich im weiteren Verlauf des Tages mit Tabak und Alkoholika versorgt. Die erste Zigarette nach elf Jahren schießt mir fast die Lichter aus, und wir steigen in den Flieger. Angekommen in der Hauptstadt schlägt meine Versteinerung um in ein ausgewachsenes Tourette-Syndrom, und ich bekämpfe den Drang wild um mich zu schlagen sowie unkontrolliert Kraftausdrücke und wüste Beschimpfungen auszustoßen.

Aber ich bin ja nicht zum Spaß hier, sondern in höherer Mission. Daher hier mein persönliches inhaltliches Highlight in Form eines Franzosen namens Jérémie Zimmermann, der das ebenso reaktionäre wie internationale ACTA-Abkommen, das das bestehende Urheberrecht zementiert statt weiterzuentwickeln, folgendermaßen quittiert: „Wir Geeks und Hacker haben das Internet einmal erfunden, wir können das auch ein zweites Mal!“ Ganz im Sinne von Das Leben ist nicht totzukriegen oder May the coolest minds prevail. Das gibt Hoffnung, in jeder Hinsicht.

Tag 2
Zwischen zwei Sessions laufe ich an einem Spiegel vorbei und kann mein Spiegelbild nicht sehen. Beunruhigt zerre ich Dr. Sprite vor den Spiegel und stelle fest, dass auch sie nicht erscheint: Der Spiegel ist verschachtelt, und ich darf weiter Bier statt Blut trinken.

Tag 3
Habe einen Kreativen-Koller und kann keine Glatzköpfe mit Hornbrille mehr sehen.

Wer (noch) mehr Inhaltliches lesen möchte, darf dies gerne in den folgenden Tagen auf dem medienpädagogischen Portal ihres/seines Vertrauens tun (Verlinkung folgt).

Abschließend noch ein paar nette Element of Crime-Zeilen. Ein Zusammenhang mit jedweden toten oder lebenden Personen oder Begebenheiten ist nicht beabsichtigt und wäre rein zufällig.

Frag mich nicht, ob ich Dich noch liebe.
Das Herz endlich gebrochen, und Spaß dabei.
Und alles geht immer irgendwie weiter.
Im Himmel ist kein Platz mehr für uns zwei.

Die Postkarte des Monats: Ich kann auch ohne Spaß Alkohol haben.
die aktuelle

New Mom in Town

Da wäre ich dann also wieder, mitten in der Grünen Hölle, wie der Spiegel ebenso schön wie nicht ganz unwahr meine neue alte Heimat jüngst betitelte. Die Kisten sind fast alle ausgepackt, bis auf einige wenige im Kinderzimmer, die ich mich nicht getraue aufzumachen, weil in ihnen die Feng-Shui-Hölle tobt: angefangene Bastelarbeiten, auf der Straße gefundene Dinge und andere Kostbarkeiten, Hottis Stiftespitzen-Sammlung (ja, sie sammelt abgebrochene Buntstiftspitzen, die Gute), Lottis Schießmunition-Sammlung (kleine gelbe Plastikkügelchen, die Jungs mit Plastikknarren im Park verschießen) und ca. 50 Millionen Kuscheltiere. Ich dagegen habe mir anlässlich der neuen Gegebenheiten ein eigenes Zimmer (Feng-Shui-Himmel) rausgelassen und mich von jedwedem irdischen Kram befreit, der bei 3 nicht auf den Bäumen war. (Dearest Fangemeinde, wenn Ihr mich wirklich liebt, dann schenkt Ihr mir ab jetzt nur noch Dinge, die verwelken oder essbar sind.)

Der Volkspark heißt jetzt Panzerhalle

Der Volkspark (Grünfläche mit 2 Spielplätzen, in der alten Heimat unser zweites Wohnzimmer) heißt jetzt Panzerhalle (Panzerhalle inmitten einer spielplatzähnlichen Grünfläche, in der neuen Heimat vermutlich mein dritter Balkon), Volkspark für Fortgeschrittene sozusagen, und da hänge ich jetzt mit den ganzen LOHAS-Eltern herum, die sich zehn Tage nach dem Spiegel-Verriss noch vor die Haustür trauen: jung, dynamisch, ökologisch, nachhaltig, schick (mutig: weiße Blusen), ausgerüstet mit elektrolytischer Apfelschorle und zahnschonenden Reiswaffeln für den alternativen Nachwuchs sowie einer gepflegten Latte Macchiato für sich selbst. Bei der Recherche nach der richtigen Schreibweise bin ich gerade über das sehr netten Abschnitt der „Kulturellen Bedeutung“ dieses koffeinhaltigen Heißgetränks in der Wikipedia gestolpert, das ich an dieser Stelle kurz anbringen möchte:

„Latte macchiato wird, ähnlich wie auch auch Bionade, häufig als Symbol für trendbewusste Neu-Großstädter der kreativen Mittelschicht und jungen Elterngeneration in Szenebezirken verwendet und demzufolge auch abwertend als Modegetränk der Yuppies und sarkastisch als Symbol und begleitendes Getränk von Gentrifizierungsprozessen betrachtet; Stereotype die unter anderem auch von Kabarettisten wie Rainald Grebe und Philip Tägert oder in dem Musical Mama Macchiato karikiert werden. Betroffene Bezirke werden in diesem Zusammenhang häufig als „Latte-macchiato-Viertel“, beziehungsweise „Latte-macchiato-Kiez“ bezeichnet. Unter der Bezeichnung „Latte-macchiato-Eltern“ oder auch speziell „Latte-macchiato-Mütter“ definieren Trend- und Zukunftsforscher eine marktwirtschaftlich relevante Zielgruppe, die einen bewusst urbanen Lebensstil in das Familienleben integrieren möchte.“ (Wikipedia)

Hat Dieter Thomas Kuhn seinen Porsche schon verkauft?

Ich lasse das jetzt mal so stehen, man muss es sich ja nicht gleich in der dritten Woche nach dem Umzug mit dem neuen Sozialgefüge verscherzen, zumal der Spiegel-Artikel hier nicht wirklich auf begeisterte Anhänger spieß, äh, stieß, und die meisten Leute hier sind ja auch wirklich nett. Gell! Bin heute übrigens an Dieter Thomas Kuhn beim nachmittäglichen Drink mit seinen Kumpels vorbeigelaufen, habe leider ganz vergessen ihn zu fragen, ob er seinen Porsche schon verkauft hat.

Hotti und Lotti sind völlig im Glück, sie ahnen noch nichts von Gentrifizierungsprozessen und Schlagermusik, sondern rennen den ganzen Tag durchs Treppenhaus, um andere Kinder einzusammeln, schwingen sich an Lianenschaukeln durch die grüne Hölle oder stürzen sich todesmutig in die Blaulach, den reißenden, an seiner breitesten Stelle ca. 50 cm fassenden Strom, der vor unserem Haus dahinplätschert.

Ich persönlich stehe noch ein bisschen unter dem Nachbeben des Umzugs, der mich physisch, mental und ökonomisch an meine Grenzen und darüber hinaus gebracht hat (wo nie ein Mensch zuvor gewesen…). Die Bilanz: Rückenschmerzen, entzündete Sehnen und Handgelenke, ein zerrüttetes Nervenkostüm und Schulden bei der Bank. Ansonsten versuche ich mich gerade an 5 Meter gegenüberliegende Häuser mit riesigen Fensterfronten zu gewöhnen, in denen Katalogfamilien zu Abend essen und an deren Dachterrassen Muschelketten hängen, und auch dass die mir plötzlich alle beim Ausziehen – Schlafen – Nasebohren zuschauen können, finde ich noch leicht grenzwertig. Aber sicher nicht mehr lang, schließlich sind wir ja alle eine grüne Familie.

Höllische Grüße
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