Meine erste Chemo

Sechs Tage im zytostatischen Vollrausch.

Sechs Tage im zytostatischen Vollrausch.

Vier Tage nach der Implantation meines Super-Ports ist es soweit: meine erste Chemo! Das Abenteuer beginnt mit einer Taxifahrt. Da ich unter dieser Art von Drogen nicht aktiv am Straßenverkehr teilnehmen kann, verfüge ich ab sofort über ein entsprechendes Rezept („Verordnung einer Krankenbeförderung“ für „hochfrequente Behandlung“). Um sieben Uhr dreißig steht die royale Kutsche vor der Tür, um mich durchs morgendliche Lingendingen zu chauffieren und in der onkologischen Tagesklinik der Frauenklinik abzuladen. Dort tummeln sich im Wartebereich die verschiedensten Frauen: mit Haaren, Perücken, Tüchern oder Mützen, dick, dünn, schick, in Jogginghose, mit Buch, Handy, Kreuzworträtsel oder Strickzeug, in jeder Altersgruppe, zwischen zwanzig und neunzig ist alles dabei. Dennoch stellt sich recht schnell ein Community-Feeling ein – der Krebs macht alle gleich.

Beim Eingangsgespräch mit zwei Ärztinnen und einer Krankenpflegerin werde ich direkt auf dem Stuhl gewogen, auf dem ich sitze (fancy!), und man bohrt mir eine kapitale Nadel in den Port. Dann bekomme ich eine Führung durch die heiligen Hallen: Es gibt drei Räume mit jeweils etwa fünf Plätzen. Die gepolsterten Liegen sehen sehr bequem aus, dank geheimer Top-Informationen der Huberin weiß ich auch schon, dass diese individuell verstellbar sind. Für die Gemütlichkeit gibt es Kuscheldecken. Neben jeder Liege wiederum steht ein mobiler Infusionsständer, mit dem frau bei Bedarf auf Tour gehen kann (viel trinken = viele Toilettengänge). Es gibt einen großen Balkon, und da wir uns im sechsten Stock befinden, eröffnen sich mir buchstäblich königliche Aussichten in Richtung Osterberg und Schloss Hohenlingendingen.

Vergiftung mit Ansage

Dann geht es los. Insgesamt werden mir nacheinander etwa zehn verschiedene Flaschen, Päckchen und Tabletten verabreicht: Kochsalzlösung, Epirubicin (Pfleger: „So, jetzt gibt’s Aperol Spritz!“), Zuckerwasserlösung, Cyclophosphamid sowie irgendwas gegen Blasenentzündung, Übelkeit und anderes drohendes Ungemach. Ich unterhalte mich mit ein paar Frauen, zu meiner Überraschung schimpfen alle wie die Fuhrknechte: „So ein Scheiß!“ – „Braucht kein Mensch!“ – „Wem sagen Se des?!“ Ich fühle mich sofort zu Hause. Um zehn Uhr rollt eine Stewardess mit Snackwägelchen herein und verteilt Käsebrötchen, Joghurt, Äpfel und Tee. Dann löse ich ein paar Kreuzworträtsel, klinke mich mit Hottis Kopfhörern vom Weltgeschehen aus und widme mich meinen Playlists. Um zwölf ist alles vorbei, meine Kutsche fährt vor und bringt mich heim.

Zu Hause ist zunächst auch noch alles ok, Schlag drei Uhr geht es dann rund: Kopfschmerzen, Übelkeit, Wackelbeine, Schwäche. Ich vegetiere und stiere vor mich hin, trinke gefühlte zehn Liter am Tag und döse immer wieder weg. Die nächsten fünf Tage fühlen sich an wie eine üble Alkohol- oder Lebensmittelvergiftung inklusive heftigem Kater. Nachts verschwitze ich jeweils zwei komplette T-Shirts, die stinken wie Sondermüll. Meine Leber und Nieren arbeiten auf Hochtouren, derartige Strapazen mussten sie seit meiner Pubertät nicht mehr bewältigen. Ein Gedanke hält mich unterdessen bei der Stange: Mir geht es vielleicht dreckig – dem Tumor geht es dreckiger. Mit dem will gerade wirklich niemand tauschen.

Heulen und Zähneklappern

Auch mein Geschmackssinn läuft ziemlich aus dem Ruder, Reminiszenzen an die beiden Schwangerschaften werden wach. Super sind: Sauerkonserven, Colamix, Gurke, Zwiebel, Brokkoli, Salat, Kräutertee, Pizza Napoli, purer Reis, Döner. Chéri sowie der Hotti-Lotti-Papa (HLP) karren abwechselnd Limo, Säfte, eingelegten Selleriesalat und vieles mehr heran. Geht doch nichts über guten Service und eine ausgewogene Ernährung!

Am zweiten Abend soll ich mir eine Spritze geben, die die Bildung der roten Blutkörperchen anregt. Dies wiederum passiert im Knochenmark und kann mit ziemlichen Schmerzen in den Knochen verbunden sein. Ich sterbe vor Angst und bestelle die Ex-Schwester ein. Unter Heulen und Zähneklappern werfe ich prophylaktisch eine Schmerztablette ein, während Ma Baker mir professionell die vermeintliche Untergangsinjektion in ein Bauchspeckröllchen spritzt. Darüber hinaus muss Chéri zum Übernachten kommen, ich befinde mich in äußerster Alarmbereitschaft. Um es abzukürzen: Es passiert so gut wie nichts. Beruhigt halte ich fest, dass offenbar nicht jede angekündigte potenzielle Nebenwirkung eintreten muss.

Wir schaffen das!

Stattdessen blüht mir andere Unbill. Da bei einer Chemotherapie nicht nur die Krebszellen, sondern auch alle möglichen anderen Zellen, die sich schnell teilen (Haare, Nägel, Schleimhäute, rote Blutkörperchen…), zum Teufel gehen, verabschiedet sich nach drei Tagen meine Mundschleimhaut: Ich habe Zahnfleischbluten und jede Menge kleine Entzündungen. Bei jedem Bissen gehe ich vor Schmerzen die Wände hoch, sodass ich mir schließlich Müslibrei kaufe und das restliche Essen püriere. In der Apotheke erstehe ich ein regenerierendes Gurgelgel, „von Onkologen empfohlen“. Der Apotheker nutzt meine aktuelle Labilität, um mir direkt noch einen Packen Darmbakterien anzudrehen. Nach sechs Tagen im zytostatischen Vollrausch ist der Spuk schließlich vorbei. Ich bin sehr beeindruckt von der Ausnüchterungsleistung meines Körpers und überzeugt: Wir schaffen das!

3-2-1-0 Ein notwendiger Abgesang

Bild: DoctorWho, Lizenz: CC

Schon seit Anfang September lief der Countdown langsam aber sicher Richtung Krankenhaus-Glastür, die sich bald für immer hinter mir schließen sollte – ich draußen und der Rest bitte DRINNEN!! Die Schwester war angezählt, ein totes Pferd. Agent Elliot Panty hat ihre letzte Mission erfüllt – sie hat nach ausgiebigem Bebrüten des Eis, wie das so ihre Art ist, kühn und präzise zugeschlagen und gekündigt. Eigentlich sollte dies ein Artikel in bekannter Wunderbramanier werden, ein humoristisch aufbereiteter Abgesang auf 11 Jahre Fencheltee, Schichtwechsel, Kreuzschmerzen, Waschlappen, Lebenretten und Paradiespunkte. Seit meinem finalen Spätdienst letzten Dienstag warte ich darauf, daß sich irgendein wuchtiges Gefühl einstellt – riesengroße Erleichterung, Wehmut wegen den Kollegen, neue Freiheit – irgendwas muß doch jetzt von mir abfallen wie eine Geröllawine. Oder? Die Wahrheit ist eine sehr verhaltene Mischung aus allem gleichzeitig, die auch nach lägerem Nachdenken keinen lustigen roten Faden hergeben will. Also heute mal weniger witzig, dafür mehr wahr.
Hier ein kleiner Blick in meinen Kopf, den seit Tagen Erinnerungen durchwandern. Der Backstagebereich eines Krankenhauses ist eine sehr eigene Welt, die sich von Serien wie Emergency Room im Wesentlichen dadurch unterscheidet, daß man sich in der Realität immer fragt, wo denn die ganzen Leute mit der kleinen Rolle sind, die auf Abruf bereit stehen und ständig rufen: Ich kümmer mich drum! Um die Anlage einer Thoraxdrainage (weil der Patient keine Luft mehr kriegt), oder um eine Notfallcomputertomographie (weil alles den Anschein hat, als wären mal eben einige Liter Blut irgendwo im Patient verloren gegangen, die man dringend wiederfinden sollte, oder zumindest das Loch, durch das sie entwischt sind). Dort, wo in der Glotze einfühldsame Ärzte einfühlsame Gespräche mit Angehörigen führen findet sich in der Realität oft niemand, und der hat für sowas auch keine Zeit. Was hätten wir für einen aufblasbaren George Clooney gegeben, der immer im richtigen Moment mit seinen Rehaugen zur Stelle gewesen wäre und die richtigen Worte gefunden hätte.
Es ist eine Welt, in der einem Seiten des Menschseins begegnen, die man im Leben draußen nicht zu Gesicht bekommt. Vor allem ältere Menschen produzieren nach einer Narkose oftmals einen vorübergehenden Verwirrungszustand. Man bekommt Teetassen an den Kopf und im nächsten Moment eindeutige Avancen, man wird vergöttert, verflucht, gestreichelt, angespukt und dann wieder von vorn.
Und egal, ob sie nun verwirrt sind, Schmerzen haben, bei jedem Handgriff auf Hilfe angewiesen sind oder im Sterben liegen, den meisten Patienten kommt man sehr nahe – so nah, wie man ihnen im normalen Leben nie kommen würde. Man erfährt etwas über das Menschsein an seinen Grenzen. Und über das Sterben, den Tod, den man dann hastig in Kühlfächern verschließt oder versucht, wegzudesinfizieren, obwohl er einfach in der Luft liegt. Manchmal begegnet man ihm in Frieden, winkt mit einem weißen Taschentuch, welches sagt: Du darfst kommen! Aber meistens zieht man in eine Schlacht, bewaffnet mit Beatmungsgeräten, Defibrillator und allem, was pharmazeutisch gut und teuer ist, und erst nach Wochen wird endlich kapituliert. Man fühlt sich wie der Weihnachtsmann und der Osterhase gleichzeitig, der jemandem nach 3 Tagen Nüchternsein den ersten Schluck Wasser anbietet oder ist die gute Fee mit dem hochpotenten Morphinderivat im Anschlag, das grausige Schmerzen in einer weichen weißen Wolke auflöst. Man erfährt tiefe Dankbarkeit und weiß, daß einem etwas sehr Wichtiges anvertraut ist.
Neben dem jahrelangen berechtigten Klagen und Schimpfen wollte ich das nochmal ausdrücklich erwähnen.
Und jetzt bye bye Schwester, es war auch schön mit Dir!

Ma Baker

Grenzen war gestern (und vielleicht morgen wieder)

War ich doch eben noch mitten in der Winterdepression und habe mir überlegt, mit welchem Kostüm ich an Fasching meine Defizite aufpeppen kann (um mit Doktor ZickZackZähn zu sprechen: ich war vollkommen NICHTinnovativ), so schlägt das Ganze jetzt, wie immer die goldenene Mitte vollkommen verfehlend, ins komplette Gegenteil um.
Eben noch demotivierte Krankenschwester, jetzt bereits wahnsinnig?
In den letzten zwei Tagen habe ich gedanklich ein Kunsttherapiestudium abgeschlossen, Kerbschnitzen zu meinem neuen Hobby gemacht, erkannt, daß meine vorsichtig beginnende Selbstständigkeit an einer Homepage nicht vorbeikommt, selbige entworfen und kreiert, dafür circa drei Volkshochschulkurse zum Thema Webdesign absolviert (was ist schon HTML gegen eine entschlossene Frau?), festgestellt, daß Gälisch für Anfänger eine durchaus spannende Sache ist, herausgefunden, wie man Sauerkraut einkocht, ohne daß es sauer wird und in meinem sowieso umgegrabenen Gehirn einen kompletten Kräutergarten angelegt (mit allem, was dann dazu gehört: Pflege, Ernte, Konservierung, Weiterverarbeitung zu Tee, Ölen und allem anderen), samt (um wieder zur Homepage zurück zu kommen) einem entsprechenden Onlineshop, über das ich dann auch gleich den Bestseller vermarkten kann, den ich im Kopf schon so gut wie geschrieben habe.

Bild: downing amanda Lizenz: CC

Da ich über eine therapeutische Qualifikation verfüge, habe ich mir eine beginnende Manie vorsichtshalber ausgeschlossen. Ich frage mich nur, was jetzt als nächstes kommt. Gründe ich morgen einen Verein zur Rettung der Sumpfdotterblume, gleich eine Sekte, oder mach ich dem Mond einen neuen Mann?
Innovation ist ziemlich anstrengend.

 

Ma Baker

Mission Thrombosestrumpf

Bild: K and J Dolls, Lizenz:CC

Mitten in das eisige Heulen des Schneesturmes dringt ein anderes Geräusch.
Ein stetig lauter werdendes Piepsen sägt sich rhythmisch einmal quer durch mein Gehirn und löst dessen Alphazustand in Nichts auf.
Es ist 5.00 Uhr morgens.
Für einen langen Augenblick versuche ich, mir vorzumachen, daß das alles nicht wahr ist, während ich mit der Bettdecke kämpfe, die mich hartnäckig immer wieder niederringt, kaum daß ich mich halb aufgerichtet habe.
Ich besiege sie mit einem zornigen „ Fick Dich“ und einem Schlag in die Weichteile.
Vor dem Spiegel starre ich in das unausgeschlafene, schlecht gelaunte Gesicht einer Arbeitnehmerin im Gesundheitsbereich.
„ Du wirst gebraucht,“ versuche ich, meinem Gegenüber gut zuzureden.
Der Effekt ist nicht der, den ich mir erhofft hatte.
„ Ok, du kommst ins Paradies, wenn…!“ Ein bißchen Bestechung kann ja nicht schaden.
Das Gesicht vor mir verfinstert sich, und ich lasse den Rest meines Satzes in einem verlegenen Hüsteln untergehen.
Wir sind spät dran.
Ich versuche es mit Betteln.
Mein Spiegelbild rührt sich nicht vom Fleck.
Unerbittlich starrt es zurück.
„Also schön,“ lasse ich mich schließlich erweichen. „ Wir machen den Agent, ok?“
Die Augen im Spiegel strahlen, bevor sie artig ihrem Geschwisterpaar auf meiner Seite der Realität folgen und sich für einige Sekunden schließen.
Eine Welle aus Entschlossenheit und Pflichtbewußtsein flutet durch meinen Körper und vertreibt dieErschöpfung. Ich recke das Kinn vor und straffe die Schultern.
Als ich wieder in den Spiegel blicke sehe ich in das Gesicht von Special Agent Elliot Panty. Dieses Gesicht ist frei von jedem Rest Schlafbedürfnis, die Frisur makellos, die Augen umrandet von perfektem Make up. Alles sitzt bis ins kleinste Detail. Special Agent Elliot Panty ist ein Profi.
Sie hat schon viele äußerst gefährliche Aufträge erfüllt – und immer überlebt.
Fehler gibt es für sie nicht.
Und auch heute wird sie wieder nahezu Übermenschliches leisten.
Sie wird unter Extrembedingungen das Richtige tun.
Sie wird im Chaos einen kühlen Kopf bewahren.
Sie wird 250 Dinge gleichzeitig erledigen, ohne den Überblick zu verlieren.
Sie wird ihre Pflicht erfüllen, ohne an so banale Dinge wie Essen, Trinken, Pause, Pippimachen zu denken.
Sie wird einer großen Verantwortung gewachsen sein.
Sie wird Leben retten.
„ Wir haben eine Mission,“ sage ich zu meinem Spiegelbild und Special Agent Elliot Panty macht sich beschwingt auf den Weg.
Heute ist der Tag, an dem der Präsident an einer bestialischen Nierenkolik leiden wird und ich bin die mit dem Opiat.

 

Ma Baker