Krebs kostet

Million Euro Baby

Million Euro Baby

Chronische Krankheiten sind ein teures Vergnügen. Sie kosten, und zwar nicht nur die eigene Gesundheit, sondern auch Nerven, Zeit und Geld. Der gallische Zaubertrank Paclitaxel, den ich seit zwei Wochen bekomme, macht es da auch nicht besser, nur anders. Er gehört zur Gruppe der sogenannten Taxane, und die verursachen unter anderem gerne Hautprobleme. Aufgrund dieser „Tumortherapie-induzierten Hauttoxizität“ trocknen nun zahlreiche meiner Häute und Schleimhäute aus und machen an allen möglichen Ecken und Enden Sperenzchen: Es spannt, es juckt, es brennt, es blutet, es nervt, und ich möchte buchstäblich aus meiner Haut fahren.

Money, money, money

So verbringe ich aktuell einen nicht unerheblichen Teil meines Tages im Bad mit Gurgeln, Spülen, Sprayen, Tropfen, Tupfen, Wärmen, Salben, Cremen und noch mehr Mundhygiene als sonst. Über diesem neuen Hobby darf ich nicht vergessen, die diversen Tabletten, Pillen, Pulver und Zäpfchen gegen Magenprobleme, Harnwegsinfektionen oder bakterielle Vaginose sowie für eine gesunde Darmflora und ein stabiles Immunsystem einzunehmen und meine Hände und Füße bezüglich anfänglicher Missempfindungen (Kribbeln und Brennen) zu versorgen. Zudem gilt es, den ganzen Tag über literweise Tee zu trinken, alles gut durchzuspülen und sich regelmäßig zu bewegen. Aber was hadere ich, schließlich habe ich sonst nichts zu tun (#Emotionen Pause machen).

Die Sache mit dem Geld ist da schon existenzieller. Einen Teil der Spezialausrüstung übernimmt zwar die Krankenkasse, den Rest zahlt man jedoch höchstselbst. Dazu kommen die schier zahllosen Zuzahlungsbeträge: nicht nur für die verschiedenen Medikamente gegen Übelkeit, Erbrechen, Thrombose, Verstopfung, Schmerzen, Stomatitis, polyneuropathische Sensibilitätsstörungen oder zur Bildung weißer Blutkörperchen, sondern auch für die Zytostatika selbst sowie für die Antibiotika, die zur Behandlung einiger Nebenwirkungen erforderlich sind. Bei den regelmäßigen Taxifahrten in die Tagesklinik und zurück wird ebenfalls ein Eigenanteil fällig, zumindest bei der ersten und der letzten Tour der Serienfahrt; beim Jahreswechsel wird von vorne gezählt. Summa summarum läppert es sich. Natürlich gibt es die Möglichkeit, bei der Krankenversicherung einen Befreiungsantrag für Zuzahlungen zu stellen, wenn diese die persönliche Belastungsgrenze überschreiten – vorausgesetzt, man kann alle entsprechenden Nachweise vorlegen, das kostet dann eben wieder Zeit und Nerven.

Ab in die Sofortrente

Weitere monetäre Kosten verursachen die aktuell benötigten FFP2-Masken (auch für die Brut), da man immunsupprimiert zur Risikogruppe zählt und von zusätzlichen Infektionen derzeit eher absehen sollte, Betäubungspflaster gegen den Port-Anstech-Schmerz, auf die ich allerdings aus Allergie- und Kostengründen künftig verzichten werde, und nicht zuletzt die Anschaffung mehrerer Schlafanzüge wegen nächtlicher Entgiftungsorgien. Menschen, die auf eine Haarattrappe Wert legen, müssen zudem noch ihre Perücke mitfinanzieren, da sparen mir mein Pragmatismus und die Zwergenmützen von Frau Zirkus bares Geld.

Damit ich mir den ganzen Spaß und noch viel mehr leisten kann, hat Chéri sich jüngst etwas ganz Besonderes einfallen lassen und mich mit einem Mega-Jahreslos beglückt, mit dem ich mindestens eine monatliche Sofortrente gewinnen werde, wenn nicht gar wöchentlich eine Million. Sollte dieser Plan nicht aufgehen, werde ich es mit ABBA halten und beim Glücksspiel in Las Vegas oder Monaco ein Vermögen machen. Denn wie sagte schon der Milliardär Aristoteles Onassis, der es schließlich wissen musste? „Dem Geld darf man nicht nachlaufen, man muss ihm entgegengehen.“

Chemo 2.0 oder: Der neue Stoff

Trastuzumab, Paclitaxel und Pertuzumab

Trastuzumab, Paclitaxel und Pertuzumab unterstützen nach Kräften.

Hurra, heute wird geschallt! Offenbar wissen meine neuen Freund*innen in der Onkologischen Tagesklinik mittlerweile schon im Vorfeld, wie es um meine tagesaktuelle Befindlichkeit bestellt ist, und richten den Behandlungsplan an dieser jeweiligen Bedürfnislage aus. Denn wie schon vor drei Wochen verspüre ich auch heute keinerlei Lust auf zytostatische Abenteuer, zumal ein neues Kapitel im Wunderkrebs aufgeschlagen wird, das mich bereits seit Wochen in Unruhe versetzt: Es gibt neuen Stoff, und was ich bis jetzt davon gehört habe, klingt nicht verheißungsvoll. Und so winken sie auch heute wieder mit der Aussicht auf eine Drecksack-Vermessung per Ultraschall am Ende eines langen Chemo-Tages, nur um mich bei Laune zu halten, und damit ich überhaupt noch wiederkomme. Aber der Reihe nach.

Pest oder Cholera

Nach vier Doppelpack-Dröhnungen Epirubicin und Cyclophosphamid im Zweiwochentakt, die hoffentlich nie wiederkommen, gibt es ab sofort jeden Dienstag Paclitaxel und das zwölf Wochen lang. Was klingt wie ein Zaubertrank bei Asterix, ist Pazifische Eibe und im Global harmonisierten System zur Einstufung und Kennzeichnung von Chemikalien mit den Symbolen für „Ätzwirkung“, „Gesundheitsgefahr“ und „Reizend“ versehen. Nach Aussage der Ärzt*innen sei dieses ganz reizende Zeug aber „besser verträglich“ als das vorige, löse eher keine Übelkeit aus, dafür aber möglicherweise bleibende Polyneuropathien, also Empfindungsstörungen und Lähmungserscheinungen in Händen und Füßen. Vor die Wahl gestellt, kann man sich schier gar nicht entscheiden. Seite an Seite mit dem ätzenden gallischen Zaubertrank kämpfen zudem neuerdings zwei mexikanische Gottheiten gegen den Drecksack, nämlich die Antikörper Trastuzumab und Pertuzumab. Diese beiden können nicht nur Tumorzellenwachstum verhindern, sondern auch Herzschädigungen und Durchfall hervorrufen. Aber wie schrieb Doc Huhn ebenso beruhigend wie lakonisch aus dem Off? „Keine Angst.“ Na, dann los!

Spaß mit der Relax-Funktion!

Der Ultraschall ist hart verdient. Zunächst gilt es, fünf öde Stunden mit Infusionen hinter mich zu bringen, die mich in eine Art Halbdämmer versetzen und mein Gehirn für den Rest des Tages komplett vernebeln. Ich döse vor mich hin, nicht mal meine Weihnachtsheft-Kollektion reißt mich aus meiner Apathie. Gegen Mittag jedoch kommt Leben in die Bude. Da die Tagesklinik plant, neue Chemo-Liegen anzuschaffen, wurden zwei verschiedene Modelle zum Testen aufgebaut (ein altes Modell sei laut Schwester mal samt Patientin umgekippt). Mit dem besseren soll langfristig nachgerüstet werden, und nun ist die Meinung der Patientinnen gefragt. In diesen fragwürdigen Genuss, das neue Möbel testen zu dürfen, kommt heute die recht betagte Dame neben mir.

Chemoliege mit Relaxfunktion.

Chemoliege mit Relaxfunktion.

Abgesehen davon, dass die Polsterung, die gleich drei poppig-schrille Quietschfarben in sich vereint, eine ästhetische Zumutung ist, findet die Testerin den Stuhl spontan „unbequem“. In diesem Zusammenhang wird sie von der Schwester auf die Fernbedienung hingewiesen, mithilfe derer sie sich in eine bequemere Position bringen könne. Dabei, so die Schwester, müsse sie, die Dame, jedoch aufpassen, da sich der am Stuhl festmontierte Tisch gleichzeitig mit der Liege neige. Die Patientin solle also ihre Tasse beim Runterfahren der Rückenlehne in die Hand nehmen und dann, in der gewünschten Position angekommen, die Tasse wieder auf das Tischchen stellen. Allein, das Tischchen verharrt – ebenso wie die Rückenlehne – in einem 45-Grad-Winkel, sodass sich beim besten Willen gar nichts darauf abstellen lässt. Die Test-Omi schimpft: „So ein Schwachsinn! Und wo soll ich jetzt mit meiner Tasse hin?“ Aber sie gibt nicht auf, und durch meinen Chemo-Nebel höre ich, wie sie stoisch mit ihrer Testreihe fortfährt. Plötzlich tut es einen Schlag, erschrocken fahre ich von meiner Liege hoch. Neben mir sitzt die Dame mit weit aufgerissenen Augen senkrecht auf dem topfebenen Höllengerät, die Rückenlehne ist ruckartig und mit einem Riesenlärm gegen die Steckdosenleiste an der Wand gekracht. „Was war jetzt des?“, will sie wissen. Die Schwester erklärt: „Oh – das ist die Relax-Funktion!“ Das Urteil der Test-Omi steht: „Also, des is nix.“

Blühende Landschaften

Nach dieser Slapstick-Einlage und zwei weiteren öden Stunden darf ich endlich zum Ultraschall. Routiniert erklimme ich die Liege, die Ärztin (eine andere als beim letzten Mal) sucht mit dem Sonoding den Drecksack in meiner linken Brust, und wie ihre Kollegin vor einigen Wochen fragt auch sie schließlich ratlos: „Wo ist der denn?!“ Immerhin findet sie einen der Clips, die Doc Huhn mir als Marker der ursprünglichen Tumorgrenzen eingepflanzt hat. Dann sagt sie: „Hm, also ich sehe hier so eine Strukturauffälligkeit, das müsste er sein…“ Sie nimmt großzügig Maß und kommt auf schlappe sieben mal sieben Millimeter. Ja Donnerwetter noch eins, das nenne ich mal einen steilen Abstieg: von einem aprikosengroßen Geschwür hin zu einer „Strukturauffälligkeit“, die sich zudem kaum noch ausmachen lässt! Wenn das so weitergeht, werden sie bei der nächsten Sonografie blühende Landschaften an der Stelle finden, wo einst der Drecksack hauste.

Endlich darf ich heim, mittlerweile fühle ich mich annähernd wie auf K.o.-Tropfen. Zu Hause falle ich direkt ins Bett und schlafe bis zum Abend. In den nächsten Tagen sind Paclitaxel, Trastuzumab und Pertuzumab meine ständigen Begleiter: Ich kann Großteilen von Konversationen nicht folgen, alles geht viel zu schnell, ich drifte immer wieder weg und werde zur intellektuellen Schnecke. Ansonsten brennt und juckt die Haut an meinen Händen und Füßen, in den Händen kribbelt es, und ich habe Durchfall. Insgesamt jedoch ist der neue Stoff weniger verheerend als der erste: Mir ist nicht mehr den ganzen Tag schlecht, sodass ich endlich aufhören kann, Sauerkraut, Salami und Senf zu essen. Und bekanntlich sind es ja die kleinen Dinge im Leben, die Freude machen.

Good News oder: Schrumpfsack

Go to hell!

Go to hell!

Beim dritten Ausflug in die Onkologische Tagesklinik habe ich keine Lust mehr. Ich weiß jetzt, wie das Spielchen läuft: Chemo-Keule, fünf bis sechs Tage Siechtum, eine Woche Sich-in-die-Welt-Zurückkämpfen, nächste Chemo-Keule und alles wieder von vorne. Ich hadere damit, aus meinem geliebten Alltag gerissen und mit Ansage lahmgelegt zu werden. Mit denkbar schlechter Laune entsteige ich meiner Kutsche und knurre die Ärztin an, als sie meinen Port ansticht (ich hasse es). Doch dann wendet sich das Blatt: Eben diese Ärztin, deren Schildchen immer verdeckt ist, sodass ich ihr leider keinen schönen Namen geben kann, verkündet, dass heute erstmals nach Beginn der Chemotherapie der Drecksack geschallt und dies nun alle drei Wochen geschehen werde, um zu sehen, ob die Therapie überhaupt anspricht und das Mistding schrumpft. Jetzt wird es wieder interessant. Vielleicht zieht sie diesen Joker auch nur wegen meiner finsteren Miene, aber egal.

Die Chemo zieht sich heute. Bei mir gibt es „Druckalarm“, weil die Nadel im Port nicht richtig sitzt, sodass die Infusionen nicht reinlaufen. Die Technik hupt und piept, und die grundgeduldigen Schwestern stehen sich an meinem Infusionsgerät die Füße in den Bauch, um das Ding ordnungsgemäß einzustellen. Am Ende müssen die Ärztin geholt und der Port neu angestochen werden. Die schaut mich mit hochgezogener Augenbraue an und meint: „Das mache ich aber nur, wenn Sie mir versprechen, nicht zu schreien.“ Deal. Ich knurre nur kurz. Sie fragt: „Sie hassen mich, oder?“ Die Ärmste, wahrscheinlich denkt sie, ich fresse sie gleich.

Ja, wo ist er denn?

Danach sind wir wieder in der Spur, die Päckchen laufen durch wie geschmiert, der Port-Cop beschießt den Drecksack, ich schaue mir Laternen-Bildchen im LandZauber an, den mir Ma Baker für finstere Stunden geschenkt hat, und dann geht’s runter ins Brustzentrum zur Sonografie. Euphorisch reiße ich mir sämtliche Oberteile vom Leib und werfe mich auf die Liege. Die Ärztin beginnt, mit ihrem Sonoding auf meiner linken Brust herumzufahren, und fährt und fährt und fragt schließlich irritiert: „Mh, wo ist der denn?“ Das werte ich schon mal als gutes Zeichen. Sie rollt zurück zum Schreibtisch und bespricht mit der Assistenzärztin, auf wie viel Uhr der Drecksack denn genau sitzen solle: drei, zwei, eins, zwölf? Ich werfe „Eins!“ in die Runde: „Der sitzt auf ein Uhr!“ Schließlich wird sie fündig und fängt an zu messen. Der Zwischenbefund treibt mir schier Tränen in die Augen: Das Drecksding ist von 5 x 3 Zentimetern auf sage und schreibe 2 x 1,8 Zentimeter geschrumpft – nach zweieinhalb mal Chemo. Das ist sagenhaft, um nicht zu sagen: ganz wunderbra!

Ich bin ebenso beeindruckt ob des medizinischen Fortschritts im Allgemeinen wie überglücklich im Speziellen. Das Kollektiv hat ganze Arbeit geleistet: Der Port, Professor Huhn (stellvertretend für das Team der Lingendinger Frauenklinik) sowie die gesamte Wunderbra-Gemeinde, die den Drecksack seit Wochen mental vermöbelt und zum Teufel jagt, haben selbigem offenbar gezeigt, wo die Wurst steht (wie Lotti sagen würde) und ihn bis hierhin schon mal erfolgreich assimiliert. Und der Rest kommt auch noch. Widerstand ist zwecklos, go to hell!

Vorhair Nachhair

Bei der Recherche nach einer passenden Überschrift stießen Lotti und ich auf einen Übersichtsartikel im Spiegel über Namen von Friseursalons und damit verbundene Wortspiele („Eine Analyse von 22.000 Salonnamen aus ganz Deutschland offenbart die schrägsten Kreationen“). Besonders passend und schnittig fanden wir „Vorhair Nachhair“, dem wir diesen Wunderbra-Artikel widmen.

Hauptsache, das Krönchen sitzt.

Hauptsache, das Krönchen sitzt.

Als nächstes fallen mir die Haare aus. An Tag 15 nach der ersten Chemo-Dröhnung sind es zunächst einzelne Haare, die beim Kämmen ausgehen, an Tag 16 kleinere Büschel, an Tag 17 dann viele kleine Büschel. Die Haarwurzeln schmerzen und fallen vermutlich gerade reihenweise tot um. Am Abend von Tag 17 beschließe ich, in die Offensive zu gehen und Chéri samt Haarschneider einzubestellen. Ich bin erstaunt, wie sehr mich der Umstand, bald haarlos zu sein, dann doch trifft, träumte ich doch schon als 15-Jährige von der Frisur einer Gabriele Krone-Schmalz und als 16-Jährige von der Glatze der Sinéad O’Connor. Damals drohte mir meine Mutter, das Taschengeld zu streichen und meinen zimmereigenen Telefonanschluss zu sperren, wenn ich so weit ginge. Was für eine unnötige Aufregung: Dreißig Jahre später habe ich ja doch, was ich wollte.

Diesmal allerdings nicht freiwillig, und das macht einen Unterschied. Als ich mit dem Handtuch um die Schultern auf einem Küchenstuhl Platz nehme und Chéri mit dem Rasierer vor mir steht, muss ich kurz in seinen Bauch weinen. Lotti, die als treue Begleiterin seit Wochen nicht von meiner Seite weicht, steht mir auch in dieser schweren Stunde bei. Sie beobachtet still, wie ich mich trösten lasse, dann holt sie eine Tüte Chips, setzt sich auf den Stuhl neben mir, schaufelt sich mit einer Hand Knabberkram in den Mund und hält und drückt mit der anderen die meine. Die gute Seele! Mit Argusaugen verfolgt sie jede von Chéris Rasierbewegungen und weist ihn auf jede noch so kleine Unregelmäßigkeit hin („Hinterm Ohr ist noch ein Haar! Da an der Seite auch noch!“). Per Fotodokumentation steckt sie mir, dass Chéri, der Scherzkeks, mir einen Irokesenschnitt verpasst hat. Doch auch der fällt bald zu Boden. Es wird Herbst, und ich werfe dieses Jahr als erste mein Laub ab.

Einen schönen Menschen entstellt nichts

Am nächsten Tag starten Hotti und Lotti eine Fotosession mit mir, das haben sie sich bei der Huberin abgeschaut, deren kreativer Umgang mit ihrer damaligen Erkrankung keine Wünsche an Inspiration offenlässt. Die Reaktionen aus meinem Umfeld machen Mut: Fanta attestiert mir „eine wahrhaft royale Kopfform“, Frau Zirkus näht mir zwei entzückende, kuschelige Zwergenmützen in Grün und Rot (es ist echt kalt ohne Haare!), Frau Indigo schlägt vor, mich doch mal im Cannelloni-Fundus nach diversen Glamour-Perücken umzuschauen, und Chéri gesteht mir, dass er im allerersten Star-Trek-Film die Deltanerin Lieutenant Ilia voll hot fand. Und wie sagt außerdem der Volksmund so richtig: Einen schönen Menschen entstellt nichts.

Nach ein paar weiteren Tagen habe ich auch die Glatzen-Kröte geschluckt, sodass ich meine einstige Prachtmähne in Frieden ziehen lassen kann. Das Krönchen sitzt wieder, und immerhin habe ich noch Augenbrauen, Wimpern und Beinhaare – offensichtlich verfügt deren Zellteilung über eine andere Geschwindigkeit und bietet der Chemie-Keule damit länger die Stirn. Und im nächsten Frühling werden die Bäume wieder ausschlagen und so auch ich.

Meine erste Chemo

Sechs Tage im zytostatischen Vollrausch.

Sechs Tage im zytostatischen Vollrausch.

Vier Tage nach der Implantation meines Super-Ports ist es soweit: meine erste Chemo! Das Abenteuer beginnt mit einer Taxifahrt. Da ich unter dieser Art von Drogen nicht aktiv am Straßenverkehr teilnehmen kann, verfüge ich ab sofort über ein entsprechendes Rezept („Verordnung einer Krankenbeförderung“ für „hochfrequente Behandlung“). Um sieben Uhr dreißig steht die royale Kutsche vor der Tür, um mich durchs morgendliche Lingendingen zu chauffieren und in der onkologischen Tagesklinik der Frauenklinik abzuladen. Dort tummeln sich im Wartebereich die verschiedensten Frauen: mit Haaren, Perücken, Tüchern oder Mützen, dick, dünn, schick, in Jogginghose, mit Buch, Handy, Kreuzworträtsel oder Strickzeug, in jeder Altersgruppe, zwischen zwanzig und neunzig ist alles dabei. Dennoch stellt sich recht schnell ein Community-Feeling ein – der Krebs macht alle gleich.

Beim Eingangsgespräch mit zwei Ärztinnen und einer Krankenpflegerin werde ich direkt auf dem Stuhl gewogen, auf dem ich sitze (fancy!), und man bohrt mir eine kapitale Nadel in den Port. Dann bekomme ich eine Führung durch die heiligen Hallen: Es gibt drei Räume mit jeweils etwa fünf Plätzen. Die gepolsterten Liegen sehen sehr bequem aus, dank geheimer Top-Informationen der Huberin weiß ich auch schon, dass diese individuell verstellbar sind. Für die Gemütlichkeit gibt es Kuscheldecken. Neben jeder Liege wiederum steht ein mobiler Infusionsständer, mit dem frau bei Bedarf auf Tour gehen kann (viel trinken = viele Toilettengänge). Es gibt einen großen Balkon, und da wir uns im sechsten Stock befinden, eröffnen sich mir buchstäblich königliche Aussichten in Richtung Osterberg und Schloss Hohenlingendingen.

Vergiftung mit Ansage

Dann geht es los. Insgesamt werden mir nacheinander etwa zehn verschiedene Flaschen, Päckchen und Tabletten verabreicht: Kochsalzlösung, Epirubicin (Pfleger: „So, jetzt gibt’s Aperol Spritz!“), Zuckerwasserlösung, Cyclophosphamid sowie irgendwas gegen Blasenentzündung, Übelkeit und anderes drohendes Ungemach. Ich unterhalte mich mit ein paar Frauen, zu meiner Überraschung schimpfen alle wie die Fuhrknechte: „So ein Scheiß!“ – „Braucht kein Mensch!“ – „Wem sagen Se des?!“ Ich fühle mich sofort zu Hause. Um zehn Uhr rollt eine Stewardess mit Snackwägelchen herein und verteilt Käsebrötchen, Joghurt, Äpfel und Tee. Dann löse ich ein paar Kreuzworträtsel, klinke mich mit Hottis Kopfhörern vom Weltgeschehen aus und widme mich meinen Playlists. Um zwölf ist alles vorbei, meine Kutsche fährt vor und bringt mich heim.

Zu Hause ist zunächst auch noch alles ok, Schlag drei Uhr geht es dann rund: Kopfschmerzen, Übelkeit, Wackelbeine, Schwäche. Ich vegetiere und stiere vor mich hin, trinke gefühlte zehn Liter am Tag und döse immer wieder weg. Die nächsten fünf Tage fühlen sich an wie eine üble Alkohol- oder Lebensmittelvergiftung inklusive heftigem Kater. Nachts verschwitze ich jeweils zwei komplette T-Shirts, die stinken wie Sondermüll. Meine Leber und Nieren arbeiten auf Hochtouren, derartige Strapazen mussten sie seit meiner Pubertät nicht mehr bewältigen. Ein Gedanke hält mich unterdessen bei der Stange: Mir geht es vielleicht dreckig – dem Tumor geht es dreckiger. Mit dem will gerade wirklich niemand tauschen.

Heulen und Zähneklappern

Auch mein Geschmackssinn läuft ziemlich aus dem Ruder, Reminiszenzen an die beiden Schwangerschaften werden wach. Super sind: Sauerkonserven, Colamix, Gurke, Zwiebel, Brokkoli, Salat, Kräutertee, Pizza Napoli, purer Reis, Döner. Chéri sowie der Hotti-Lotti-Papa (HLP) karren abwechselnd Limo, Säfte, eingelegten Selleriesalat und vieles mehr heran. Geht doch nichts über guten Service und eine ausgewogene Ernährung!

Am zweiten Abend soll ich mir eine Spritze geben, die die Bildung der roten Blutkörperchen anregt. Dies wiederum passiert im Knochenmark und kann mit ziemlichen Schmerzen in den Knochen verbunden sein. Ich sterbe vor Angst und bestelle die Ex-Schwester ein. Unter Heulen und Zähneklappern werfe ich prophylaktisch eine Schmerztablette ein, während Ma Baker mir professionell die vermeintliche Untergangsinjektion in ein Bauchspeckröllchen spritzt. Darüber hinaus muss Chéri zum Übernachten kommen, ich befinde mich in äußerster Alarmbereitschaft. Um es abzukürzen: Es passiert so gut wie nichts. Beruhigt halte ich fest, dass offenbar nicht jede angekündigte potenzielle Nebenwirkung eintreten muss.

Wir schaffen das!

Stattdessen blüht mir andere Unbill. Da bei einer Chemotherapie nicht nur die Krebszellen, sondern auch alle möglichen anderen Zellen, die sich schnell teilen (Haare, Nägel, Schleimhäute, rote Blutkörperchen…), zum Teufel gehen, verabschiedet sich nach drei Tagen meine Mundschleimhaut: Ich habe Zahnfleischbluten und jede Menge kleine Entzündungen. Bei jedem Bissen gehe ich vor Schmerzen die Wände hoch, sodass ich mir schließlich Müslibrei kaufe und das restliche Essen püriere. In der Apotheke erstehe ich ein regenerierendes Gurgelgel, „von Onkologen empfohlen“. Der Apotheker nutzt meine aktuelle Labilität, um mir direkt noch einen Packen Darmbakterien anzudrehen. Nach sechs Tagen im zytostatischen Vollrausch ist der Spuk schließlich vorbei. Ich bin sehr beeindruckt von der Ausnüchterungsleistung meines Körpers und überzeugt: Wir schaffen das!

Ich und mein Port

Quelle: Partynia (Wikipedia), Lizenz: CC-BY-SA 4.0.

Nach der Diagnostik geht es nun in die onkologische Praxis, Nägel mit Köpfen, Butter bei die Fische. Wie bereits erwähnt, bekomme ich vor meiner Chemotherapie einen sogenannten Venenkatheter oder kurz: Port implantiert, sodass jede Infusion direkt dort angeschlossen werden kann und meine Venen nicht jedes Mal neu angestochen werden müssen. Da ich den Port mittlerweile dankbar als meinen leibeigenen Cop betrachte, der mir bedingungslos und loyal im Kampf gegen den Drecksack zur Seite steht, werde ich ihm bzw. seiner Implantation an dieser Stelle einen eigenen Spin-Off-Artikel widmen.

„Wo waren Sie zuletzt im Urlaub?“

Frau Professor Fischke hatte mir die OP als „kleinen Eingriff“ angekündigt, ich verbringe selbigen völlig unheldinnenhaft heulend unter Lokalanästhesie. Eine Dreiviertelstunde weine ich still vor mich hin, während zwei Chirurg*innen in meinen Venen unter meinem rechten Brustbein herumhantieren, Plastikschläuche hineinschieben, einen Kunststoffpfropf obendrauf setzen und alles wieder zunähen. Ich bin arm, klein und ausgeliefert. Was, wenn die Ärztin am Vorabend feiern war und ihr aus Versehen das Skalpell ausrutscht? Oder der Arzt so sehr von den nicht enden wollenden Urlaubsgeschichten des Krankenpflegers fasziniert ist, dass er mir am Ende noch eine Schere mit einpflanzt? Wissen sie wirklich, was sie tun? (Ich sage nur: „Oh Gott, das ist mir noch nie passiert, ich schwöre!“) Ich liege da, die Tränen laufen unaufhörlich, bis mich eine Stimme aus meinem Selbstmitleid herausreißt: „Hallo? Frau aktuelle? Sind Sie noch da?“ Zur Abwechslung möchte der Krankenpfleger nun von mir wissen, wo ich meinen letzten Urlaub verbracht habe. „Ich??“, frage ich ungläubig, schließlich bin ich gerade kurz davor, dass Zeitliche zu segnen, und der fragt mich nach meinem letzten Urlaub. „Ja“, meint er schulterzuckend. „Äh… Borkum“, erinnere ich mich, „Nordsee, letztes Jahr.“ Darauf der Pfleger: „Oh – wie langweilig!“ Darauf ich: „Ich liebe langweilig.“ Nichts ist in diesem Moment wahrer, auf Abenteuer wie diese kann ich getrost verzichten.

Wunderschöne Venen

Die Ärzt*innen, die aktuell wohl auch eher in Sorge um meinen mentalen Zustand sind, versuchen es mit bereits erwähntem Kompliment, möglicherweise aber auch, um die Spannungen in der Konversation zwischen dem Pfleger und mir zu überbrücken: „Also Frau aktuelle, Sie haben auf jeden Fall sehr schöne Venen!“ Ich frage nach, ob es denn da Unterschiede gebe. „Oh ja“, meint die Chirurgin begeistert, „unbedingt! Und Ihre sind wirklich wunderschön!“ Nun gut, die Schönheit liegt wie immer im Auge der Betrachterin, so wohl auch hier. Immerhin bin ich raus aus meiner inneren Emigration und schöpfe neue Hoffnung, den OP-Saal lebend zu verlassen.

Dann haben wir es auch schon geschafft. Ich werde wieder zugenäht, im Rollstuhl in den Aufwachraum gefahren und mit Kaffee und Keksen reanimiert. Es folgt die obligatorische Röntgenaufnahme in der Nachbarabteilung, ob alles richtig sitzt; auf dem Rückweg verlaufe ich mich natürlich wieder und muss von einer Pflegerin eingesammelt werden. Sie versorgt mich noch mit letzten Pflegetipps für mein neues Tool, u.a. muss ich mir in den nächsten zehn Tagen jeweils eine Anti-Thrombosespritze geben. Allein bei dem Gedanken daran werde ich fast ohnmächtig. Dann bin ich entlassen. Als ich gehe, höre ich die Pflegerin: „Die Nächste, bitte!“

Jetzt erst recht

In den folgenden Tagen kann ich meinen rechten Arm nicht heben. So muss Chéri mir demütigenderweise nicht nur meine Pullis an- und ausziehen, sondern auch noch die Haare waschen. Ich knie vor seiner Badewanne und gebe Kommandos: „Wärmer! Weiter oben! Mehr schrubben! Aua, nicht so fest!!“ Und Chéri macht wärmer und schrubbt weiter oben und nicht so fest.

Nach weiteren Tagen des Selbstmitleids habe ich dann schließlich die zündende Idee mit dem Port-Cop, der mich beschützen und den fiesen Bad-Guy-Tumor-Drecksack in meiner linken Brust auf ein Uhr mit noch fieseren Chemo-Medis beschießen wird. Angesichts dieser neuen Ausgangslage melden sich meine Lebensgeister zurück und ich switche in den Kampfmodus. Zum ersten Mal seit Wochen denke ich statt „Fuck!!!“ und „Oh Gott!!!“: „Na warte!“ Jetzt erst recht.

Die inneren Werte

Bei unserem zweiten Termin verpasst Professor Huhn mir eine fancy Clipmarkierung in die linke Brust. Dort sitzt ja bekanntlich der Tumor-Drecksack auf ein Uhr. Wie bereits in Krebs ist ein Arschloch grafisch dargestellt, besitzt dieser quasi die Form einer Kaulquappe mit zwei Schwänzen: ein fetter Bobbel in der Mitte, der zwischen meinen Milchgängen mittlerweile Fäden von insgesamt zehn Zentimetern Länge nach oben und unten ausgebildet hat. Um den ursprünglichen Anfangs- und Endpunkt des Tumors zu verorten, werden bei der Clipmarkierung nun zwei Metallkügelchen (oder -drähte?) in die Brust geschossen. So kann man wunderbar dabei zusehen, wie der Drecksack unter der anstehenden Chemotherapie schrumpfen wird, und bei der Operation schließlich das ursprüngliche Tumorareal lokalisieren und entfernen. Lotti fragt mich zu Hause ungläubig, ob ich jetzt Metalldinger im Busen habe, und ich antworte lässig: „Das ist der neue heiße Piercing-Scheiß. Außen und sichtbar kann jede*r.“

Um zu überprüfen, ob meine neuen Piercings auch richtig sitzen, werde ich zur Mammografie in die Radiologie geschickt. Für diese Röntgenaufnahme der Brust verrenkt frau sich zu vollkommen widernatürlichen Körperhaltungen, während die anwesende Fachfrau für das Fotoshooting professionell die gepiercte Brust hart zwischen zwei Plexiglasscheiben in Form presst. Ich frage sie, ob sie das den ganzen Tag mache. Sie bejaht. Was für ein Job. Sehnsüchtig und erleichtert denke ich an mein harmloses kleines Zirkusbüro. Luft anhalten, lächeln, Foto, fertig. Meine Innen-Piercings sitzen perfekt.

Strahlende Schönheit

Zurück bei Professor Huhn stellt sich heraus, dass mir in den nächsten Monaten eine steile polytoxikomane Karriere bevorsteht und meine diesbezüglichen Parameter damit durch die Decke gehen werden. Der Therapieplan sieht nämlich Folgendes vor: 24 Wochen Chemotherapie, drei Wochen Pause, Operation, vier Wochen Pause, sechs Wochen tägliche Bestrahlung, danach fünf Jahre Hormontherapie. Mir blüht eine hohe Infektanfälligkeit, was mich in Corona-Zeiten zur Risikopatientin macht. Einmal in der Woche wird ein Blutbild fällig werden, alle drei Monate ein EKG und Herz-Echo.

Danach geht es zu Frau Professor Fischke, der Onkologin im sechsten Stock. Sie offenbart mir die Implantierung des Portsystems für die Chemo in den nächsten Tagen, klärt mich über potenzielle Nebenwirkungen inklusive Haut- und Haarproblemen auf und versorgt mich mit einem Stapel Rezepte gegen Übelkeit, Verstopfung und Schmerzen samt Erläuterungen. Als letztes händigt sie mir in diesem Zusammenhang noch ein Rezept für eine Perücke aus. Meine Befremdung nimmt kein Ende. Lotti hingegen zeigt sich zu Hause begeistert: „Cool, wir holen Dir eine in pink!“ Ganz meine Tochter: Wir machen die Krücke zum Zepter!

Ausflug in die Nuklearmedizin

Ich hab' Uran im Urin, da hilft kein Aspirin.

Ich hab‘ Uran im Urin, da hilft kein Aspirin.

Mit der Diagnose Krebs bekommt man so richtig zu tun. Noch bei unserem ersten Treffen scheucht mich Professor Huhn zur Magnetresonanztomographie (MRT), um über Magnetfelder meinen Körper nach Metastasen zu durchsuchen. In der Radiologie lege ich mich, nackt bis auf die Unterhose und ein vorne offenes Flügelhemdchen, bäuchlings auf eine Liege, die dann in die Röhre fährt. Dabei bietet die Liege nicht nur eine Öffnung fürs Gesicht, damit man bei potenziellen Panikattacken überhaupt noch Luft bekommt, sondern auch zwei kleinere Öffnungen auf Brusthöhe, durch die die Brüste baumeln. Als Krönung werden diese zusätzlich zwischen Plexiglasscheiben fixiert, vermutlich auch, damit sie bei dem Höllenlärm, Geruckel und Gewummer der nun einsetzenden Großbaustelle schön stillhalten und so vorteilhaft wie möglich abgelichtet werden können. Nach zwanzig Minuten in dieser unwürdigen Haltung bei kakophonischer Beschallung wanke ich verstört im Flügelhemdchen zurück in die Umkleide, ziehe mich an und lasse mich von Chéri ins sichere Zuhause chauffieren.

Date in der KRÖNA-Klinik

Ein paar Tage später geht es ins CT. Als erstes verlaufe ich mich im Labyrinth der KRÖNA-Klinik, komme zu spät und werde von der diensthabenden MTA barsch zurechtgewiesen. Als sie mir das Kontrastmittel in meine lädierten Venen spritzt, platzt ein Blutgefäß. Es tut ziemlich weh und ich breche in Tränen aus. Die MTA schaut mich verständnislos an und meint: „Das ist nur ein Blutgefäß, das ist nicht schlimm.“ Beim CT selbst gibt es einen metallischen Geschmack auf der Zunge, und meine Blase wird plötzlich so warm, dass ich fürchte, in die Hose gemacht zu haben. Ma Baker holt und rettet mich mit Himbeertorte, und ich gelobe, beim nächsten Date in der KRÖNA-Klinik deutlich mehr Zeit einzuplanen.

Richtig aufregend wird es dann in der Nuklearmedizin, deren Name an sich schon Abenteuer und Adrenalin verspricht. Dort soll mithilfe eines Knochenszintigramms ermittelt werden, ob sich Metastasen in meinen Knochen niedergelassen haben (Spoiler: haben sie nicht). Bevor ich zu Hause aufbreche, meint Lotti: „Hey, voll cool – bring unbedingt ein Bild von Deinem Skelett mit!“

„Das ist mir noch nie passiert, ich schwöre!“

Für so ein Szintigramm bekommt man erst einmal eine Ladung radioaktives Kontrastmittel injiziert. Im Aufklärungsbogen befinden sich u.a. folgende Hinweise:

„Die Ausscheidung der Substanzen erfolgt über den Urin. Beschränken Sie am Untersuchungstag den Umgang mit Kindern und Schwangeren auf Notwendiges.

Am Untersuchungstag ist Ihr Urin radioaktiv. Sie sollten bei Toilettengängen vorsichtig sein, achten Sie auf Ihre Kleidung [was bedeutet das?, Anmerk. die aktuelle].“

Die Injektion übernimmt eine sehr junge Ärztin, die offensichtlich bemerkt, wie hasig und weinerlich ich bin, und gleich beruhigend auf mich einredet: „Kein Problem, da müssen Sie keine Angst haben, es wird alles gut!“ Ich klammere mich an ihre Worte und die Hoffnung, dass sie weiß, was sie tut. Zunächst weiß sie das auch, legt mir einen Zugang, holt die Spritze aus dem kleinen James-Bond-Metallköfferchen und legt los. Ich schaue weg, Spritzen kann ich nicht sehen. Plötzlich verliert die Ärztin die Nerven und schreit los: „Oh mein Gott! OH MEIN GOTT! Oh nein, das ist mir noch nie passiert, ICH SCHWÖRE, wirklich!!!“ Ich schaue zu meinem rechten Arm, aus dem kleine Blutfontänen spritzen, schnappe mir einen Wattebausch und halte den Zugang dicht, während die arme Frau kreideweiß die Hände ringt. Ich frage sie, was denn passiert sei. „Nichts“, sagt sie, „mit Ihnen ist alles in Ordnung!“ Dann beteuert sie nochmals, dass ihr sowas wirklich noch nie passiert sei („Ich schwöre!), verklebt meinen Arm mit unzähligen Pflasterstreifen und verabschiedet mich hektisch.

„Ich hab‘ Uran im Urin“

Alarmiert und irritiert verlasse ich die Nuklearmedizin für eine dreistündige Pause, da sich das Zeug jetzt erst mal in meinem Körper verteilen muss. Ich treffe Chéri auf ein Schokocroissant, und er fragt mich, ob ich eigentlich den Achtziger-Jahre-Hit „Ich hab‘ Uran im Urin “der Band Wiederwillen kenne – bisher noch nicht.

Als ich später zur Nuklearmedizin zurückkehre, um endlich mein Skelett-Foto zu machen, schlurft die arme junge Ärztin mit hängendem Kopf über den Campus. Ich frage sie, ob wieder alles in Ordnung wäre. Sie schaut mich aus tiefen Augenringen an und sagt leise: „Ich bin so müde.“ Ich hoffe nur, dass sie nicht auf dem Weg zur nächsten Schicht ist. Das Rätsel um den Vorfall kann ich nicht lösen, Ma Baker als ehemalige Schwester mutmaßt jedoch, dass die Gute womöglich radioaktives Zeug verläppert und damit den Raum kontaminiert habe, was ja in Kliniken nicht so gerne gesehen wird, und bringt so immerhin ein bisschen Licht ins Dunkel.

Die Bildgebung selbst verläuft dann verhältnismäßig ereignisarm. Dennoch ist mein Nervenkostüm für diesen Tag derart zerrüttet, dass ich mich dringend mit dem Kauf einer supercoolen Boombox belohnen muss. Eine weise Entscheidung, danach geht es mir deutlich besser. Ich beschalle die Wohnung mit meinen Lieblingsplaylists, und Hotti und Lotti sind blass vor Neid.

Wunderkrebs oder: Krebs ist ein Arschloch

Drecksack auf ein Uhr

Drecksack auf ein Uhr

Da räumst Du jahrelang Dein Leben auf, befreist Dich aus widrigen Umständen, toxischen Beziehungen, von verschiedenen toten Pferden und nicht zuletzt vom Todesstern, ziehst entzückende Energiebällchen auf, bis sie endlich so groß sind, dass das Zusammenleben mit ihnen tatsächlich richtig Spaß macht, angelst Dir den Chéri Deiner Träume sowie den coolsten Job der Welt und hast es endlich so richtig, richtig schön – und dann – zack! – hast Du einen fetten fiesen Knoten in der linken Brust auf ein Uhr. Das Leben ist mal wieder eine Bitch.

„Schreiben Sie!“

Gespürt habe ich das Ding erstmals vor den Sommerferien bei Dehnübungen (Yoga kann Leben retten), am Ende der Ferien ist klar: Ich habe Brustkrebs, ein sogenanntes „Mammakarzinom“, welch Ironie. So werde ich vorstellig bei Professor Huhn am Lingendinger Brustzentrum, der mir nicht nur die Basics meines neuen Lebens in Absurdistan vermittelt, sondern mir auch tief in die Augen schaut und rät: „Schreiben Sie! Sie sehen so aus, als könnte Ihnen das helfen.“ Wie recht er hat! So habe ich auf Anraten meines Arztes beschlossen, Wunderbra wieder einmal zu reanimieren, unter der Rubrik „Wunderkrebs“ über dieses neue Universum zu berichten und meine werten Mitmenschen auf diese Weise zum einen auf dem Laufenden zu halten und zum anderen nach Möglichkeit zu unterhalten.

Wer noch nie Krebs hatte, weiß ja gar nicht, in welcher Maschinerie man sich plötzlich wiederfindet. Eben noch ein entspanntes Leben – und schwupps, hängst Du im MRT, CT, in der Nuklearmedizin und schließlich an der Chemo-Infusion. Da ich das alles vorher ebenso wenig kannte wie die meisten von Euch, werde ich hier einen aufklärerischen Ansatz verfolgen und Euch nach und nach mitnehmen in die Welt der onkologischen Abenteuer.

Ich und mein Port

Ich beginne mit meinem aktuellen Achterbahn-Mindsetting. Als ich erfahre, dass der Tumor groß, bösartig und schnellwachsend ist und dass ich daher erst eine monatelange Chemotherapie, dann eine OP und dann eine Bestrahlung bekommen werde, verbringe ich zunächst einige Tage in ungläubiger Schockstarre. Das kann nicht sein, das ist einfach zu absurd, DAS KANN EINFACH NICHT SEIN. Recht schnell bricht sich allerdings unbändiger Zorn Bahn – was, bitte, soll die Sch…? What the fuck??? Ich empfinde es – nach wie vor – als bodenlose Unverschämtheit, mir dermaßen an den echt gut rollenden Karren zu fahren. Ich fluche wie ein Fuhrknecht und stelle mir den Scheißknoten als Sandsack vor, auf den ich eindresche, als gebe es kein Morgen. Diese blöde Drecksau. Ich würge ihn, ich beschimpfe ihn und mehrmals täglich drehe ich ihm den Hals herum.

Was mir bei dieser Imaginationsarbeit helfend zur Seite steht, ist mein nagelneues Premium-Portsystem: ein Venenkatheter, der mir implantiert wurde und stark an einen Enterprise-Kommunikator erinnert („Computer!“). In dieses Ding unter meinem rechten Schlüsselbein wird jetzt, um meine „wunderschönen Venen“ (O-Ton Chirurgin) zu schonen, bei jeder Chemo-Runde die Infusion angeschlossen. Das bedeutet, dass der Good Guy rechts (Port) als mein buchstäblich leibeigener Cop jetzt regelmäßig den Bad Guy links auf ein Uhr (Tumor) mit fiesen Zytostatika beschießen wird, immer auf die zwölf. Gemeinsam werden der Port-Cop und ich dem miesen Drecksack den Garaus machen, aber sowas von. Der Tumor ist vielleicht aggressiv, der Port und ich sind aggressiver – nimm das, Schurke!

Am Abend vor der ersten Chemo geht es wieder abwärts in der Achterbahn und ich liege weinend in Chéris Armen und jammere, dass sich das anfühle, als gehe man zur eigenen Hinrichtung. Chéri tröstet: „Na ja, es sind ja viele kleine Hinrichtungen.“ Das stimmt auch wieder. Und als Horny Tawny mich später noch scharfsinnigerweise darauf hinweist, dass ja schließlich nicht ich, sondern der Dreckskrebs hingerichtet werde, bin ich ausgesöhnt und kann es schier nicht mehr erwarten.

To be continued!

Highway to Neues

Das monotone Brummen läßt mich in eine Art Halbschlaf zurücksinken, während das Getriebe unter mir den Gang wechselt und ich sanft hin und her geschüttelt werde. Ich werfe einen Blick aus dem Fenster mitten ins Morgengrauen, das gerade anfängt, die Alb mit orangenem Gold zu überziehen. Es ist halb acht und ich fahre mit dem Bus, so wie ungefähr 150 andere mehr oder weniger ausgeschlafene Mitmenschen, die sich in dasselbe öffentliche Nahverkehrsmittel quetschen. Es ist eng, stickig und laut. Die charmante Männerstimme vom Band verkündet den nächsten Halt: Kliniken Berg! Erstaunt stelle ich fest, daß ich nicht aufspringe und mir den Weg zur Tür freikämpfe. Nein, ich lehne mich nochmal entspannt zurück und atme aus, während die Bergklinik Richtung Morgengrauen hinter mir zurück bleibt. Und mit ihr die Waschlappen, Sauerstoffmasken, Blasenkatheter in 40 verschiedenen Größen, die Flächendesinfektionsmittel, die verschwundenen Akten und DAS OPFER! Jenes langatmige, facettenreiche Klagelied über miserable Bezahlung, Burnout, Rückenschmerzen, kaputte Topfspülen (man trägt AA in der Schüssel gerne wochenlang über das halbe Stockwerk:-)), Hilflosigkeit, Überforderung, schwachsinnige Hirarchien und TROTZDEM unermüdliches Weiterarbeiten. Man war jemand – ein Opfer dieses Systems, eine Ausgebeutete, die aber doch mit einer so wichtigen Aufgabe betraut war. Das Opfer ist wie ein sicheres stabiles Netz, in das man jederzeit getrost zurückfallen kann, wenn man mit anderen Entwürfen der eigenen Identität scheitert. Das Opfer ist sicher, es ist immer da und es nimmt einen jederzeit wieder freudig auf wie die verlorene Tochter. Und es ist geschickt darin, zu verschleiern, daß man einen verdammt hohen Preis für die Dauerkarte in die warme vertraute Höhle zahlt, in der es immer ein wenig nach alten Socken riecht.
Mit einem Ruck wechselt der Bus wieder den Gang und kämpft sich tapfer weiter den Berg hinauf Richtung Hörsaalzentrum Morgenstelle, in eine neue, unvertraute Welt. Ich kann sie riechen. Sie riecht nach Vielfalt und Möglichkeiten, nach Mensaessen, nach Freiheit, zweifelhaftem Automatenkaffee, nach Eigenverantwortung und nach Computern, die samt der fast fertigen Hausarbeit abstürzen. Sie riecht fremd, sie ist ein anderer Mikrokosmos mit eigenen Gesetzen und vielen Unbekannten. Sie macht Angst. Der schützende Opferanzug funktioniert nicht mehr und dort, wo er gewohnt hat, klafft jetzt ein unschönes Loch in der eigenen Identität. Und die Natur mag keine Löcher, genauso wenig wie mein Unk, der ein solches Vakuum sofort mit vielfältigsten Befürchtungen flutet. Wenn ich kein Opfer mehr bin, was zum Geier bin ich dann? Ein erwachsener Mensch mit Möglichkeiten? Eine Privilegierte? Und wie bin ich so, wenn ich privilegiert bin und mir Möglichkeiten offenstehen? Was für eine Frau kommt da am Ende raus? Mag ich die dann noch?
Das Beruhigende ist: Ich hab satte 3 Jahre, um das rauszufinden.

Ma Baker