Zirkusmutti

ZirkusmuttiVier alle haben ein neues Hobby: den Lingendinger Kinder- und Jugendzirkus Cannelloni, der an zwei Wochenenden im Frühjahr mit seinem Programm das Publikum beglückt. Glanz und Glamour bleiben dort per definitionem zwar nur den Heranwachsenden in der Manege vorbehalten. Aber auch die Eltern, Geschwister und sonstigen Angehörigen mit zu viel Zeit und Enthusiasmus dürfen sich jenseits von Ruhm und Rampenlicht nach Strich und Faden selbst verwirklichen. Während Hotti also am Trapez baumelt, Flugrollen macht und als Piratin mit Pois herumfuchtelt, entfalten Chéri und ich uns unter anderem am Kuchen- und Würstchenstand. Da Lotti noch zu jung für die Manege ist, aber bereits mit den Hufen scharrt, macht sie derweil mit anderen Geschwisterkindern in der Warteschleife Karriere im Popcornverkauf.

Auch ansonsten bietet der Zirkus unzählige Betätigungsfelder und Gewerke, bei denen sich die Familien zu ungeahnten Höchstleistungen aufschwingen können. So glänzen manche Eltern beim Frittieren von Langos, andere entfalten sich beim Lose-, Getränke- oder Kartenvorverkauf oder entdecken ihre Leidenschaft für das Auf- und Zuziehen der Theatervorhänge während der Vorstellungen. Wieder andere entpuppen sich als passionierte TontechnikerInnen, MaskenbildnerInnen, Sicherheitsbeauftragte oder Spendendosenbastler. Eine Großgruppe brilliert bei der Artistenverpflegung, ein anderes Team poppt Popcorn bis zum Exzess, und das Zirkusorchester, selbstredend bestehend aus Eltern, gibt ohnehin immer das Letzte. Dass die Zirkus-Community eine Zeitung herausgibt, die Requisite bastelt und das tonnenschwere Zirkuszelt selbst auf- und abbaut, versteht sich von selbst. Eine Zirkusmutter bringt es folgendermaßen auf den Punkt: „Du verabschiedest dich im Februar von deinen Freunden und hoffst, dass sie im Juni noch da sind.“ So ähnlich würde ich das auch unterschreiben: Wer uns im Frühjahr sehen will, kommt auf den Zirkusacker.

Nach zwei Aufführungswochenenden mit Blut, Schweiß, Tränen, Matsch, Erkältung und Adrenalin sind wir tot, aber glücklich. Ich habe keine Ahnung, wie die anderen Zirkusfamilien die Pfingstferien verbringen – wir schlafen.

P.S.: Hier eine sehr nette kleine Reportage der Lingendinger Studierenden Anna Schaden, Katrin Gildner & Sebastian Gabler (Klarnamen-Alarm!!!) über den Zirkus Cannelloni und sein diesjähriges Programm „Schrottkompott“:

Oh Fortuna oder: Dusel g’hett

„Und wenn Du den Eindruck hast, dass das Leben ein Theater ist, dann such Dir eine Rolle, die Dir so richtig Spaß macht.“ (Shakespeare)

Gegessen wird, was auf den Tisch kommt!

Gegessen wird, was auf den Tisch kommt!

Man ist ja bekanntlich viele, und wenn man sich erst einmal auf diesem Planeten reinkarniert hat, sind potenziellen Betätigungsfeldern nur wenige Grenzen gesetzt. So beschließen Fanta und Herzog Ullrich, diesen Sommer mit Brut, Gauklertruppe und Theaterwagen durchs Klabautertal auf der Schwäpischen Alp zu ziehen, um die dortigen Eingeborenen mit Kultur in Form der Commedia dell’arte zu beglücken. Zu diesem Zweck gründen sie kurzerhand die Compagnia Cocolores, werben fremde Menschen an, die dann halt mal LaienschauspielerInnen wären, und funktionieren Hotti, Lotti, Mulle, Rulle und Wulle naheliegenderweise zu Trollen um. Da Fantas und Herzog Ullrichs Plan zudem vorsieht, die Zeit der Tournee gemeinsam in einem recht ansehnlichen Zeltlager zu verbringen, verdingen Chéri und ich uns jenseits des Rampenlichts als Feldköche, schließlich muss das fahrende Volk ja bei Laune und Kräften gehalten werden.

Die Komödie, die mit nicht geringeren Themen als Glück, Liebe, Gier, Hunger und anderen irdischen Zumutungen aufwartet, trägt im Übrigen den klangvollen Titel Oh Fortuna. Als allerdings eine Bekannte der Compagnia Cocolores fragt, ob denn das Stück überhaupt auf deutsch wäre, erwägt man kurz den Alternativtitel Dusel g’hett, um auch den letzten Schwaben hinterm Ofen hervorzulocken. Der Vorschlag wird zwar verworfen, Dusel – oder Fortuna – ist der Truppe dennoch hold. Die Sonne scheint, der Theaterwagen hält (im Großen und Ganzen), und die Fans gehen voll mit: Als die Truppe bei den Proben auf den Klabauterauen ihren Hit Werft die Sorgen über Bord! schmettert, stürzt sich ein vorbeifahrender Kanut direkt selbst in den Fluss.

Die Brut hat das Rumhängstadium erreicht

Auch das Lagerleben gestaltet sich erstaunlich angenehm. Nach zwei Tagen Hitze riskiere ich es meiner Umwelt zuliebe sogar, erstmals einen Fuß ins sogenannte Waschzelt zu setzen, das aus einem Wasserkanister, zwei Plastikschüsseln und zwei Gießkännchen besteht. Abends gibt es Lagerfeuer mit Romaliedern und Dixi-Klo-Blues [1], die Kinder schnuckeln sich auf dem fliegenden Teppich in ihre Schlafsäcke, und als die Perseiden unterwegs sind, liegen wir hochoben auf der Burgruine Hohengundelfingen und zählen Sternschnuppen, die teilweise so groß sind, dass Lotti ein „Alter, war die fett!!!“ entfährt.

Zudem hat die Kinderschar ganz offensichtlich das Rumhängstadium erreicht. Im Gegensatz zu früher streiten, fallen und heulen sie nicht mehr den ganzen Tag, sondern hängen, wenn sie nicht gerade von Fanta oder mir zum Zähneputzen gescheucht oder Aufräumen gezwungen werden, im Pulk herum: im Schatten unter Bäumen, in Hängematten zwischen Bäumen, vor Fantas Piroschka oder im Zirkuswagen von Clown Paul-Uwäh. Dort zocken sie wahlweise Uno oder Werwolf mit dem Capitano, Dotore Baloardo und Matt-Diesel, dem Sohn von Clown Paul-Uwäh.

Siegreich an sämtlichen Fronten

Chéri und ich dagegen hängen wahlweise in unserer Kochjurte herum oder im ortsansässigen Supermarkt, wo wir tonnenweise Nudeln, Sprudel und Taschenlampen jagen und es einmal sogar schaffen, zwei Getränkerückgabeautomaten gleichzeitig lahmzulegen. An der Küchenfront kämpfen wir täglich erfolgreiche Schlachten gegen Hunderte, ach was sage ich, Tausende von Wespen und lassen abends zahllose Salatköpfe rollen für die ausgegaukelten HeimkehrerInnen. Ansonsten versäumen wir als echte Groupies der Compagnia lediglich zwei Vorstellungen: einmal, um von der Klabauter bis zur Tonau und zurück zu radeln, und ein weiteres Mal, um im Freibad heiß zu duschen.

Doch das Theaterleben kennt auch Tiefpunkte, die der Vollständigkeit halber nicht unerwähnt bleiben sollen. So verwandelt sich Herzog Ullrich nach diversen anderen Strapazen in einer ohnehin schon fürchterlichen Gewitternacht in Rumpelstilzchen, das den Capitano und Dotore Baloardo jeweils einen Kopf kürzer macht, da diese ein wenig zu tief in die Rotweinflasche geschaut haben und infolgedessen mit Kampfsportübungen das halbe Küchenzelt einreißen. Glücklicherweise hat Mulle am nächsten Tag ihren 13. Geburtstag, den wir in einem netten kleinen Erlebnispark begehen. Dort stopfen wir uns zunächst voll mit Feuerwehrkuchen, dann gehen wir mit Herzog Ullrich rutschen und anschließend parken wir ihn vor dem Saloon-Westernstand, wo er sich den Frust der letzten Stunden aus der Seele schießen darf. Als wir uns dann noch kollektiv im Spiegelkabinett zum Affen machen, ist die Laune vollends wiederhergestellt. Dusel g’hett!

[1] Der Dixi-Klo-Blues handelt u.a. davon, dass eine Frau namens Barbie die blauen Toiletten schüttelt, um deren Inhalt gleichmäßig zu verteilen. [zurück]

Oma Highspeed

Der Kosmos meint es derzeit gut mit mir. So bin ich aktuell nicht nur vom einen oder anderen Superhelden umgeben, sondern auch von einem Haufen wohlmeinender Feen, die keine Wünsche offen lassen. Die eine vermietet mir meine neue Traumwohnung zu einem für Lingendinger Verhältnisse mehr als fairem Preis und spendiert mir nächstes Jahr möglicherweise einen schicken Ostbalkon für meinen Morgenkaffee. Eine andere stabilisiert mich nachhaltig beim Nikotinentzug, indem sie mir keine Zigaretten gibt, auch wenn ich noch so hartnäckig auf Holzscheiten knieend im Schlamm vor ihr herumrutsche. Die nächste zaubert mitten im Umzugsirrsinn für Fanta, mich und unsere Sippschaft ein mediterranes Menü und spendiert tütenweise Haute Couture für die Mädels, eine weitere wiederum will mir günstig ihren Trockner vermachen. Und dann ist da noch die beruflich pensionierte, politisch jedoch hyperaktive Oberfee mit dem langen grauen Zopf, die Frauengeschichte schreibt, keine S21-Demo auslässt und nicht nur meine Wäsche vor heraufziehenden Gewittern in Sicherheit bringt, sondern sie neuerdings auch noch ordentlich zusammengelegt vor meine Tür stellt.

Batman oder Superman?

Ihr entgeht im Übrigen: Nichts. So macht sie mich darauf aufmerksam, dass ich vor einer Minute Fantas Auto leider auf dem Handwerkerparkplatz abgestellt habe und dieses doch bitte umparken möge, dass ich wiederum die Scheibe meines eigenen Fahrzeugs auf der Fahrerseite offen gelassen habe und dass ich gestern Abend entweder Besuch gehabt oder sehr laut telefoniert habe, wobei sie breit grinsend versichert, dass sie selbstredend „kein Wort!“ verstanden habe. Sie hat mittlerweile herausgefunden, dass mein W-LAN Lady Blabla heißt und verrät mir im Gegenzug, dass sie Highspeed wäre. Neulich fängt sie mich mit hochgezogener Augenbraue auf der Treppe ab und sagt mit tiefer Stimme: „Ich habe übrigens Deinen Blog gelesen!“ Noch nicht einsortieren könnend, ob das jetzt gut oder schlecht für mich und unser künftiges nachbarschaftliches Verhältnis ist, kontere ich betont lässig: „Ah ja?“ Darauf sie: „Und wer war das jetzt neulich morgens: Batman oder Superman?“

Darüber hinaus hat sich die Highspeed-Fee kurzerhand zur Vize-Oma für Hotti und Lotti erklärt. So scheucht sie drei Wochen lang meine Brut zum morgendlichen Bus in die Dreckspatzen-Ferienbetreuung, während ich bereits in aller Herrgottsfrühe vollkommen egoman meiner Berufstätigkeit und Selbstverwirklichung in der Landeshauptstadt fröne. Sie beglückt uns mit Apfelmus und Marmelade, Gurken, Brombeeren und Holunderblütensirup, und sie vollbringt sogar das Wunder, die granatensture Lotti dazu zu bewegen, ihr Fahrrad in den Schuppen zu schieben oder sich einen Sonnenhut aufzusetzen, wenn ich mir diesbezüglich schon den letzten Zahn an diesem Esel von einem Kind ausgebissen habe. Und jüngst hat sie beschlossen, für meine Nachkommen Genossenschaftsanteile zur Finanzierung von Mikrokrediten zu erwerben. Ich rechne fest damit, dass sie mir in naher Zukunft zwinkernd drei Haselnüsse in die Hand drücken, dreckig lachen und sagen wird: „Aber um Mitternacht bist Du zu Hause!“

Feuerlauf

Zu meinem diesjährigen Geburtstag schenken mir Ma Baker und der Sysop eine Herausforderung in Form eines Feuerlaufs. Zuerst freue ich mich, dann fürchte ich mich, und dann geht es los, hoch auf einen kleinen Bauernhof auf der Alb. Als Ma und ich ankommen, drückt uns die leitende Oberhexe tonnenweise Lebensmittel in die Hand, die wir in die Kühl- und Küchenschränke sortieren dürfen, und ich bin beruhigt: Wir werden vielleicht verbrennen, aber nicht verhungern, und es gibt sogar jede Menge Waffelröllchen. Dann trommelt uns die Oberhexe zusammen, wir stellen uns vor, erhalten erste Instruktionen sowie die Ankündigung, dass sich der Bauer, dem der Hof gehört, nach getaner Arbeit zu uns gesellen wird, und bekommen Obst und Kekse. Danach schleppen wir ungezählte Holzscheite zu einem Scheiterhaufen auf der Wiese, legen mit Klappern, Klicken und Klacken unsere Ratio lahm, dann gibt es Kaffee und Kuchen, und nach weiteren Kopfausschaltspielchen und innerer Sammlung ist es auch schon wieder Zeit fürs Abendessen.

Ein anderes System übernimmt die Steuerung

Als es langsam dämmert, entzünden wir mit Zeitungsfackeln den Scheiterhaufen, gehen ein letztes Mal nach drinnen, bekommen finale Instruktionen, und dann wird es ganz still. Wir gehen nach draußen, stellen uns im Kreis um das Feuer, das mittlerweile nahezu heruntergebrannt ist. Wie angekündigt stößt der Bauer zu uns, er steht im Kreis neben mir, auf meiner anderen Seite steht eine kleine blonde Frau. Ein anderes System übernimmt die Steuerung, und ich will nur noch eins: ins Feuer, und zwar sofort. Vorher gilt es allerdings noch einen Holzpfeil mit dem Hals zu durchbrechen. Damit hatte ich jetzt nicht gerechnet, und ich möchte auf der Stelle nach Hause. Was, wenn es bei mir nicht funktioniert und ich der volle Feuerlaufholzpfeildurchbrecherloser bin und alle schauen zu? Noch blöder wäre es allerdings, meinen Pfeil heimlich, still und leise anderweitig zu entsorgen und mir so meinen eigenen Feuerlauf zu versauen. Also klemme ich mir mit zitternden Händen den Pfeil zwischen mein Halsgrübchen und ein Holzbrett, das die Oberhexe hält, atme dreimal tief ein und aus und zersplittere das Ding sauber in der Mitte. Und alle schauen zu.

Respekt!

Danach verteilt die Oberhexe die glühenden Kohlen zu beiden Seiten der zu laufenden Bahn. Als wir nacheinander noch einmal mit einem Rechen durch die Glut haken, versengt mir die Hitze fast Gesicht und Jeans. Respekt. Und dann ist es soweit, wir stehen im Kreis und halten uns an den Händen. Der Erste löst sich aus dem Kreis, hält vorm Glutteppich kurz inne und läuft dann mit bloßen Füßen darüber, als wäre es nichts. Einer nach dem anderen läuft, und plötzlich spüre ich, wie der Bauer neben mir anfängt zu vibrieren wie eine Rakete vorm Start, und dann läuft auch er. Kurz darauf zündet die kleine blonde Frau auf meiner anderen Seite und läuft. Und dann laufe ich, laufe über 900 Grad heiße Glut, und es ist wunderschön. So wunderschön und leicht wie bisher weniges in meinem Leben. Mit festen Schritten laufe ich über die Bahn aus glühenden Kohlen, und als ich anschließend an Ma vorbeilaufe, schüttle ich fassungslos und glücklich den Kopf. Ich reihe mich wieder in den Kreis ein, schaue zu, wie wir alle übers Feuer laufen, einer nach dem anderen, wieder und wieder. Dann laufen wir zusammen, in Zweier- und Dreiergruppen, auch Ma und ich, wir laufen für uns, großartige Wunderbra-Artikel und das Leben als solches.

Wiiiuuuuuuuuuuuuuuuuuuuu

Und dann ist es vorbei. Es ist mitten in der Nacht, es gibt beruhigenderweise noch einmal jede Menge zu essen, und ich bin nicht sicher, ob wir übers Feuer gelaufen sind oder LSD genommen haben. Ma und ich verabschieden uns, rauchen eine letzte Zigarette unter einem gigantischen klaren Nachthimmel, eine gestochen scharfe Mondsichel, eine riesige Venus und unzählige andere Sterne leuchten strahlend hell über unserem Bauernhof, und es herrscht unendliche Stille. Die äußere Welt dagegen gestaltet sich als maximal materieproblematisch und sperrig. Nach drei Anläufen gelingt es mir, die Autotür zu öffnen und meinen Rucksack auf der Rückbank zu verstauen, und ich bin sehr froh, dass Ma die Straßenverkehrsordnung im Griff hat und in der Lage ist, unser kleines Raumschiff sicher nach Hause zu fliegen. Als auf der Schnellstraße nach Lingendingen ein anderes Raumschiff mit Lichtgeschwindigkeit und einem pfeifenden Wiiiuuuuuuuuuuuuuuuuuuuu an uns vorbeirast, realisieren wir, dass sich unser Fahrtempo quasi im Minusbereich befindet.

Als ich am nächsten Morgen aufwache, bin ich nicht sicher, ob das alles nur ein Wahnsinnstraum war. Und dann schaue ich mir meine Füße an, und sie sind kohlpechrabenschwarz. Ohne eine einzige Brandblase. Eins steht nach diesem Abend fest: Wir können mehr.

Frühling und so weiter

Eben noch in den Fängen einer kleinen Winterdepression, jetzt schon im Frühlingsrausch: Vögel reißen einen morgens um fünf mit Balzrandale aus dem Schlaf („Nimm mich!!“), die Nachbarn steigen um sieben mit Home Improvement ein, Altglas wird zum Container gefahren, als gäbe es nichts Schöneres auf der Welt, und Horden von sportlich gesinnten Menschen stolpern mehr oder weniger dynamisch mit Nordic Walking-Stöcken durch Wald und Flur. Erschien einem eben noch alles recht sinnfrei, leer und endlos, so dass man in Erwägung zog, dem Ganzen mit einer Überdosis Voyager und Schokoriegeln ein Ende zu setzen, fragt man sich angesichts fluffig vorbeiziehender Wölkchen jetzt: „War was?“

Dank Klimawandel erreichen die Temperaturen bereits im März Rekordwerte von knapp 30 Grad Celsius, beim mittäglichen Spaghetti-Eis mit den Kollegen bekommt man Sonnenbrand, und Arbeiten zu gehen erscheint sinnloser denn je, man möchte nur noch eins: Raus. Männer wie Frauen ziehen immer weniger an, trinken ihre Latten wieder ohne Polyesterdecken auf den Knien, man verliebt sich und verliert mindestens den Kopf, Kinder entwickeln ihre alljährliche Insektenhysterie, und heuschnupfengeplagte Zeitgenossen suchen nach neuen Vulgarismen, um ihrem saisonalen Leid angemessen Ausdruck zu verleihen.

Erdbeeren, Spargel, Schweinenacken

Menschen beziehen Betten, putzen Fenster, schütteln Teppichfusseln in den Milchkaffeeschaum ihrer Nachbarn und werfen alte Matratzen und vertrocknete Weihnachtsbäume aus den Fenstern, Balkone werden von im Winter geplatzten Bierkästen gereinigt, das Wintergesicht eingemottet, man wagt ein Lächeln oder zwei, und kleine Kinder verscherbeln an jeder Straßenecke ihren überflüssig gewordenen Kinderzimmerkruscht an andere, noch kleinere Kinder. Ungeduldige kaufen Erdbeeren aus Südafrika und Spargel aus Marokko, spirituell Bewegte umarmen Bäume, und vorsommerlich Umnachtete werfen in jeder noch so kleinen Freiluftnische Würstchen und marinierte Schweinenacken auf den Grill.

Die Saison für Hexenfeuer wird eröffnet, Bollerwagen werden nachbarschaftlich ausgetauscht, Mörike und Goethe überstrapaziert, und sogar die aktuelle bekommt wieder Lust, abendelang in Kneipen zu verhängen, kettezurauchen und kommunikativ zu sein. Frühling, ja, Du und so weiter…

die aktuelle

Wann ist today?

Today is life - tomorrow never comes! Graffiti in Matala, Kreta

Ja, man wird älter! Das ist ein Naturgesetz! Und damit ändern sich auch die Befindlichkeiten in Bezug auf den wohlverdienten Urlaub. Früher war man selbstverständlich ein unerschrockener Abenteurer, der es zum Gesetz erhoben hat, auf seinem Weg zu den Ärschen der Welt keine einzige Nacht in einem richtigen Bett zu schlafen, und wenn sich das mal nicht vermeiden ließ, dann mußte es doch zumindest verwanzt oder das Klo irgendein schwarzes Loch auf einem gottverlassenen Hinterhof sein. Am besten fühlte man sich aufgehoben unter einem verrosteten Schild mitten in der Pampa, wo man eine echt interessante Zeit damit verbrachte, auf das Phantom eines Busses zu warten, das irgendwann letzte Woche dort mal vorbei gefahren sein soll und dieses unter Umständen nächste Woche wieder tun wird. Sagt der Local, was die gängigere und auch etwas schönere Bezeichnung für den Eingeborenen ist. Und der Local muß es schließlich wissen. Wer einen guten Local hat braucht keinen Reiseführer.
Aber das war wie gesagt früher. Heute hat man es mit dem Rücken, was ein einigermaßen vernünftiges Bett zur Nachtruhe erforderlich macht. Man schläft nicht mehr so tief ( oder trinkt einfach nicht mehr bis zum Präkoma ), weshalb man auch die Geräuschkulisse des regen Prostitutionsbetriebs in den Zimmern nebenan nicht mehr ausblenden kann und sich deshalb  einfach eine Bleibe sucht, die zwar spießig, aber mal kein Puff ist. Man hat die intensive Zeit unter dem Schild in der Pampa dicke, man möchte am Ort der Träume ankommen und nimmt dafür schon auch mal den Luxus eines Mietwagens in Kauf. Wir haben auch einen ganz einfachen Trick entdeckt, wie man trotz Leihauto doch noch so rucksacktouristisch rüberkommt, daß das eigene Ego damit klar kommt. Man packt einfach zwei Wanderrucksäcke mit all den Dingen, die man so den lieben langen Tag brauchen könnte: Badesachen, Lesematerial für verschiedene  Stimmungslagen, Klamotten für unterschiedlichste Witterungsbedingungen, Zahnseide und notfalls ein paar Schaufeln Sand, falls der Rucksack so garnicht voll und schwer aussehen will! Unerläßlich sind auch die staubbedeckten Wanderstiefel an den Füßen. Badeschlappen wirken viel zu relaxt und kein Mensch glaubt Dir, daß Du Kreta damit zu Fuß durchquert hast. Man fährt also mit dem Mietauto so nah wie möglich an den Ort, den man besuchen möchte, parkt dort schnell, springt unauffällig raus und tritt mindestens fünf Schritte zurück. Schnell den Rucksack aufgeladen, ein sonnenverbranntes Gesicht gemacht und alle schauen Dich bewundernd an, weil sie denken, Du hättest Dich zu Fuß die 20 Kilometer durch den furztrockenen Canyon geschlagen, um hier jetzt am Strand ein wohlverdientes Päuschen zu machen. Funktioniert fast immer, außer man muß unter den bewundernden Blicken der anderen Touristen nochmal zum Auto zurück, weil man die Digicam im Handschuhfach vergessen hat.
Und natürlich geht man immernoch in die zwanglosen Kneipen, aus denen die ehemaligen Hippihochburgen an der Südküste Kretas fast gänzlich bestehen. Aber man blickt mittlerweile nicht mehr neidisch zu den wildbärtigen, barfüßigen Aussteigern hinüber, die das Leben dort zurück gelassen hat. Wo man früher Freiheit und Wildheit vermutet hatte sieht man heute Verlebtheit, Abgestumpftheit und nachdem man jeden Abend dieselben Leute in diesen Kneipen trifft weiß man nach spätestens einer Woche, daß die meisten ein echt alternatives Alkoholproblem haben.
Today is life – und ich bin schwer dafür, jede Sekunde davon zu genießen!
Aber tomorrow kommt halt auch!
Und ist dann heute!

Ma Baker, live von einem Balkon in Léntas, Kreta