Resilienz rules oder: Emotionen Pause machen

Corona und Krebs sind eine ätzende Kombination. Besonders für Hotti und Lotti ist der derzeitige Zustand eine ziemliche Zumutung: Sie sind Teenager*innen und wollen raus, feiern und Spaß haben. Statt Leichtigkeit und Unbeschwertheit heißt es jedoch: Rücksicht, Zurückhaltung, Vernunft und Kontrolle. Doch auch jenseits der speziellen Lage im Hause aktuelle dürften wir uns wohl alle darin einig sein, dass 2020 nicht das glanzvollste aller Jahre ist. Umso wichtiger ist es, die eigene mentale und psychische Grundkonstitution regelmäßig auf Vordermann zu bringen und so langfristig zu stählen. Um also in der gegenwärtigen Krise, die sich mutmaßlich noch eine ganze Weile ziehen wird, wenigstens einige unserer Tassen im Schrank zu behalten, habe ich als hauseigene Bundesregierung ein entsprechendes Maßnahmenpaket geschnürt, das ich seit Wochen sukzessive umsetze und gerne der Allgemeinheit als Basis für die persönliche Glücksforschung zur Verfügung stellen möchte.

Gönn Dir!

Millionen Chines*innen können nicht irren, wenn sie sagen „Es ist besser, ein Licht zu entzünden, als über die Dunkelheit zu klagen“, und so zünden Hotti, Lotti und ich nicht nur ab nachmittags allerorten Kerzen an, sondern arbeiten neuerdings auch hart mit dem Belohnungsprinzip. Für schulische Glanzleistungen bekommen die beiden regelmäßig Mandelhörnchen oder Quarkteig-Fledermäuse/-Nikoläuse vom Lieblingsbäcker, für erledigte Haus- und Haushaltsaufgaben winkt ein Einkaufsausflug in den geliebten Flohmarktladen, für ein Abenteuer in der Nuklearmedizin eine Boombox. Bis zum Lockdown gingen wir mit Fanta und deren Brut montags fett essen, alleine schon, weil wir den Montag geschafft hatten. Mittlerweile bestellen wir mittwochs Pizza, um die bewältigte Wochenhälfte zu feiern, und unterstützen so auch noch die hiesige Gastronomie. Darüber hinaus cheerleaden wir uns natürlich alle ständig gegenseitig: „Sagenhaft, wie Du Dich aufs Abi vorbereitest!“, „Wahnsinn, Du kapierst das amerikanische Wahlsystem!“, „Hammer, schon die vierte Chemo und Du lebst noch!“ Um mein eigenes Nerven- und Immunsystem und das meiner Freund*innen nicht bei unnötigen Einkaufstouren zu verschleißen, gönne ich mir selbst ein wöchentliches Gemüsekistenabo. Lotti hingegen, die aufgrund der lockdownbedingten Schließung des Zirkus Cannelloni Schwarz trägt, spendiere ich ein paar Gitarrenstunden bei der Nachbarin.

Erbauungsmediensammlung

Schließlich ist auch der passende Soundtrack in Krisenzeiten eine nicht zu unterschätzende Größe. Als Durchhaltehymnen empfehle ich Eye of the Tiger (von Survivor, sic!), Immer wieder kommt ein neuer Frühling und ganz besonders Emotionen Pause machen. Literarisch rate ich zu Tomte Tummetott, den dadaistischen Kurzgeschichten von Erwin Moser oder wahlweise Vogonengedichten. Resilienzratgeber dagegen, die momentan Hochkonjunktur haben, lassen wir schön im Regal stehen, zu groß ist der Optimierungsdruck, zu gering der Spaßfaktor: „Resilienz – Das Geheimnis der psychischen Widerstandskraft“, „Machen Sie sich krisenfest!“, „Das Hindernis ist der Weg“, „Die sieben Säulen der Resilienz“, „Ab heute stresst mich gar nichts mehr“, um nur einige zu nennen. Auch herkömmliche Nachrichten sind wohldosiert einzusetzen, am besten alternierend mit Good News, einem Nachrichtenkanal zur Unterstützung des körpereigenen Optimismussystems.

In der Sektion Bewegte Bilder geben Tatortreiniger, Mord mit Aussicht, Lucifer oder Terminator (Sarah Connor beim Durchhalten zusehen) viel her, Tiervideos gehen ohnehin immer. Hier einige unserer Top-Favoriten:

Die unglaublichsten Freundschaften zwischen Tieren

Kakadu tanzt „What is love“

Paradiesvogel beim Balzen

Japanese Puffer Fish baut ein Mandala

Um Hottis und Lottis Serotoninspiegel stabil zu halten, plane ich für die kommenden Wintermonate – Gipfel der Dekadenz – zudem ein Streaming-Abo, mein lokaler Videothekdealer, zu dessen letzten Kund*innen ich vermutlich gehöre, möge es mir angesichts der außergewöhnlichen Umstände nachsehen.

„Vier Schlangen beten ein Emoji an“

Jenseits des Medienkonsums gibt es natürlich noch etliche weitere Betätigungsfelder, um sich selbst robust, durabel und widerstandsfähig zu halten. Hier eine wilde Sammlung, die unter anderem auf Umfragen im Freund*innenkreis zurückgeht: unvernünftig viel Nachtisch essen; Bratäpfel mit Vanillesoße machen, dazu Kakao mit Sahne reichen; Kekse backen; Schlafanzüge kaufen; Sonnenuntergänge anschauen und danach direkt ins Bett gehen; elementare Dinge wie Bewegung, frische Luft, Plaudereien mit Freund*innen, schlafen, schnuckeln; sich eine Katze auf den Bauch binden; puzzeln; aufhören zu hadern (inschallah); eine Kakteensammlung anschaffen und ihrem Beispiel an Anspruchslosigkeit und Ausdauer folgen; Ausflüge mit Paarhufern unternehmen (Artikel folgt); Wunderbra lesen; Wunderbra schreiben; eine Reha machen und sich mal nur um sich selbst drehen; eine Feuerschale im Garten installieren; Wartungsberichte von Flugzeugen lesen; sich an eine laufende Waschmaschine kuscheln (Polyvagaltherapie); eine Weltkarte aufhängen und sich darüber kaputtlachen, wo die Kinder (und man selbst) bestimmte Orte vermuten; töpfern; Specksteinskulpturen mit abgefahrenen Titeln kreieren („Vier Schlangen beten ein Emoji an“, „Trump in Zwangsjacke“); an der Work-Life-Balance feilen und die Gilmore Girls schauen (besser spät als nie); umziehen; reiten; in der Werkstatt abtauchen; Frühlingszwiebeln versenken; eine halbe Stunde glasig gucken; Pläne für das nächste Jahr schmieden (HA!).

Die wichtigsten Aphorismen

Ansonsten gelten die oben genannten Maßnahmen selbstverständlich auch sämtlich für Teenager*innen, können allerdings für diese Zielgruppe noch erweitert werden um beispielsweise stundenlange Badezimmersessions, Haarkuren mit Apfelessig-Minze-Tinkturen, Gesichtspackungen mit Apfelessig-Heilerde („FÜHL mal, wie WEICH!“), jeden Finger- und Fußnagel in einer anderen Farbe lackieren, noch mehr Musik hören, noch mehr Serien glotzen, noch mehr Nachtisch essen, auch und gerade zum Frühstück.

Den ganz Abgeklärten unter uns, die die oben zum besten gegebenen Ratschläge bereits selbst und mehrfach erfolglos angewandt haben und sich nach wie vor die Haare raufen, möchte ich abschließend noch folgende tröstliche Aphorismen ans Herz legen:

The difference between fiction and reality is that fiction has to make sense.

Don’t despair at the absurd – go with it.

Das Leben ist eine Phase.

Und nun, liebe Gemeinde, lasst uns gemeinsam die Raute machen und inbrünstig ins Universum schmettern: WIR SCHAFFEN DAS!

Vorhair Nachhair

Bei der Recherche nach einer passenden Überschrift stießen Lotti und ich auf einen Übersichtsartikel im Spiegel über Namen von Friseursalons und damit verbundene Wortspiele („Eine Analyse von 22.000 Salonnamen aus ganz Deutschland offenbart die schrägsten Kreationen“). Besonders passend und schnittig fanden wir „Vorhair Nachhair“, dem wir diesen Wunderbra-Artikel widmen.

Hauptsache, das Krönchen sitzt.

Hauptsache, das Krönchen sitzt.

Als nächstes fallen mir die Haare aus. An Tag 15 nach der ersten Chemo-Dröhnung sind es zunächst einzelne Haare, die beim Kämmen ausgehen, an Tag 16 kleinere Büschel, an Tag 17 dann viele kleine Büschel. Die Haarwurzeln schmerzen und fallen vermutlich gerade reihenweise tot um. Am Abend von Tag 17 beschließe ich, in die Offensive zu gehen und Chéri samt Haarschneider einzubestellen. Ich bin erstaunt, wie sehr mich der Umstand, bald haarlos zu sein, dann doch trifft, träumte ich doch schon als 15-Jährige von der Frisur einer Gabriele Krone-Schmalz und als 16-Jährige von der Glatze der Sinéad O’Connor. Damals drohte mir meine Mutter, das Taschengeld zu streichen und meinen zimmereigenen Telefonanschluss zu sperren, wenn ich so weit ginge. Was für eine unnötige Aufregung: Dreißig Jahre später habe ich ja doch, was ich wollte.

Diesmal allerdings nicht freiwillig, und das macht einen Unterschied. Als ich mit dem Handtuch um die Schultern auf einem Küchenstuhl Platz nehme und Chéri mit dem Rasierer vor mir steht, muss ich kurz in seinen Bauch weinen. Lotti, die als treue Begleiterin seit Wochen nicht von meiner Seite weicht, steht mir auch in dieser schweren Stunde bei. Sie beobachtet still, wie ich mich trösten lasse, dann holt sie eine Tüte Chips, setzt sich auf den Stuhl neben mir, schaufelt sich mit einer Hand Knabberkram in den Mund und hält und drückt mit der anderen die meine. Die gute Seele! Mit Argusaugen verfolgt sie jede von Chéris Rasierbewegungen und weist ihn auf jede noch so kleine Unregelmäßigkeit hin („Hinterm Ohr ist noch ein Haar! Da an der Seite auch noch!“). Per Fotodokumentation steckt sie mir, dass Chéri, der Scherzkeks, mir einen Irokesenschnitt verpasst hat. Doch auch der fällt bald zu Boden. Es wird Herbst, und ich werfe dieses Jahr als erste mein Laub ab.

Einen schönen Menschen entstellt nichts

Am nächsten Tag starten Hotti und Lotti eine Fotosession mit mir, das haben sie sich bei der Huberin abgeschaut, deren kreativer Umgang mit ihrer damaligen Erkrankung keine Wünsche an Inspiration offenlässt. Die Reaktionen aus meinem Umfeld machen Mut: Fanta attestiert mir „eine wahrhaft royale Kopfform“, Frau Zirkus näht mir zwei entzückende, kuschelige Zwergenmützen in Grün und Rot (es ist echt kalt ohne Haare!), Frau Indigo schlägt vor, mich doch mal im Cannelloni-Fundus nach diversen Glamour-Perücken umzuschauen, und Chéri gesteht mir, dass er im allerersten Star-Trek-Film die Deltanerin Lieutenant Ilia voll hot fand. Und wie sagt außerdem der Volksmund so richtig: Einen schönen Menschen entstellt nichts.

Nach ein paar weiteren Tagen habe ich auch die Glatzen-Kröte geschluckt, sodass ich meine einstige Prachtmähne in Frieden ziehen lassen kann. Das Krönchen sitzt wieder, und immerhin habe ich noch Augenbrauen, Wimpern und Beinhaare – offensichtlich verfügt deren Zellteilung über eine andere Geschwindigkeit und bietet der Chemie-Keule damit länger die Stirn. Und im nächsten Frühling werden die Bäume wieder ausschlagen und so auch ich.

Ich und mein Port

Quelle: Partynia (Wikipedia), Lizenz: CC-BY-SA 4.0.

Nach der Diagnostik geht es nun in die onkologische Praxis, Nägel mit Köpfen, Butter bei die Fische. Wie bereits erwähnt, bekomme ich vor meiner Chemotherapie einen sogenannten Venenkatheter oder kurz: Port implantiert, sodass jede Infusion direkt dort angeschlossen werden kann und meine Venen nicht jedes Mal neu angestochen werden müssen. Da ich den Port mittlerweile dankbar als meinen leibeigenen Cop betrachte, der mir bedingungslos und loyal im Kampf gegen den Drecksack zur Seite steht, werde ich ihm bzw. seiner Implantation an dieser Stelle einen eigenen Spin-Off-Artikel widmen.

„Wo waren Sie zuletzt im Urlaub?“

Frau Professor Fischke hatte mir die OP als „kleinen Eingriff“ angekündigt, ich verbringe selbigen völlig unheldinnenhaft heulend unter Lokalanästhesie. Eine Dreiviertelstunde weine ich still vor mich hin, während zwei Chirurg*innen in meinen Venen unter meinem rechten Brustbein herumhantieren, Plastikschläuche hineinschieben, einen Kunststoffpfropf obendrauf setzen und alles wieder zunähen. Ich bin arm, klein und ausgeliefert. Was, wenn die Ärztin am Vorabend feiern war und ihr aus Versehen das Skalpell ausrutscht? Oder der Arzt so sehr von den nicht enden wollenden Urlaubsgeschichten des Krankenpflegers fasziniert ist, dass er mir am Ende noch eine Schere mit einpflanzt? Wissen sie wirklich, was sie tun? (Ich sage nur: „Oh Gott, das ist mir noch nie passiert, ich schwöre!“) Ich liege da, die Tränen laufen unaufhörlich, bis mich eine Stimme aus meinem Selbstmitleid herausreißt: „Hallo? Frau aktuelle? Sind Sie noch da?“ Zur Abwechslung möchte der Krankenpfleger nun von mir wissen, wo ich meinen letzten Urlaub verbracht habe. „Ich??“, frage ich ungläubig, schließlich bin ich gerade kurz davor, dass Zeitliche zu segnen, und der fragt mich nach meinem letzten Urlaub. „Ja“, meint er schulterzuckend. „Äh… Borkum“, erinnere ich mich, „Nordsee, letztes Jahr.“ Darauf der Pfleger: „Oh – wie langweilig!“ Darauf ich: „Ich liebe langweilig.“ Nichts ist in diesem Moment wahrer, auf Abenteuer wie diese kann ich getrost verzichten.

Wunderschöne Venen

Die Ärzt*innen, die aktuell wohl auch eher in Sorge um meinen mentalen Zustand sind, versuchen es mit bereits erwähntem Kompliment, möglicherweise aber auch, um die Spannungen in der Konversation zwischen dem Pfleger und mir zu überbrücken: „Also Frau aktuelle, Sie haben auf jeden Fall sehr schöne Venen!“ Ich frage nach, ob es denn da Unterschiede gebe. „Oh ja“, meint die Chirurgin begeistert, „unbedingt! Und Ihre sind wirklich wunderschön!“ Nun gut, die Schönheit liegt wie immer im Auge der Betrachterin, so wohl auch hier. Immerhin bin ich raus aus meiner inneren Emigration und schöpfe neue Hoffnung, den OP-Saal lebend zu verlassen.

Dann haben wir es auch schon geschafft. Ich werde wieder zugenäht, im Rollstuhl in den Aufwachraum gefahren und mit Kaffee und Keksen reanimiert. Es folgt die obligatorische Röntgenaufnahme in der Nachbarabteilung, ob alles richtig sitzt; auf dem Rückweg verlaufe ich mich natürlich wieder und muss von einer Pflegerin eingesammelt werden. Sie versorgt mich noch mit letzten Pflegetipps für mein neues Tool, u.a. muss ich mir in den nächsten zehn Tagen jeweils eine Anti-Thrombosespritze geben. Allein bei dem Gedanken daran werde ich fast ohnmächtig. Dann bin ich entlassen. Als ich gehe, höre ich die Pflegerin: „Die Nächste, bitte!“

Jetzt erst recht

In den folgenden Tagen kann ich meinen rechten Arm nicht heben. So muss Chéri mir demütigenderweise nicht nur meine Pullis an- und ausziehen, sondern auch noch die Haare waschen. Ich knie vor seiner Badewanne und gebe Kommandos: „Wärmer! Weiter oben! Mehr schrubben! Aua, nicht so fest!!“ Und Chéri macht wärmer und schrubbt weiter oben und nicht so fest.

Nach weiteren Tagen des Selbstmitleids habe ich dann schließlich die zündende Idee mit dem Port-Cop, der mich beschützen und den fiesen Bad-Guy-Tumor-Drecksack in meiner linken Brust auf ein Uhr mit noch fieseren Chemo-Medis beschießen wird. Angesichts dieser neuen Ausgangslage melden sich meine Lebensgeister zurück und ich switche in den Kampfmodus. Zum ersten Mal seit Wochen denke ich statt „Fuck!!!“ und „Oh Gott!!!“: „Na warte!“ Jetzt erst recht.

Die inneren Werte

Bei unserem zweiten Termin verpasst Professor Huhn mir eine fancy Clipmarkierung in die linke Brust. Dort sitzt ja bekanntlich der Tumor-Drecksack auf ein Uhr. Wie bereits in Krebs ist ein Arschloch grafisch dargestellt, besitzt dieser quasi die Form einer Kaulquappe mit zwei Schwänzen: ein fetter Bobbel in der Mitte, der zwischen meinen Milchgängen mittlerweile Fäden von insgesamt zehn Zentimetern Länge nach oben und unten ausgebildet hat. Um den ursprünglichen Anfangs- und Endpunkt des Tumors zu verorten, werden bei der Clipmarkierung nun zwei Metallkügelchen (oder -drähte?) in die Brust geschossen. So kann man wunderbar dabei zusehen, wie der Drecksack unter der anstehenden Chemotherapie schrumpfen wird, und bei der Operation schließlich das ursprüngliche Tumorareal lokalisieren und entfernen. Lotti fragt mich zu Hause ungläubig, ob ich jetzt Metalldinger im Busen habe, und ich antworte lässig: „Das ist der neue heiße Piercing-Scheiß. Außen und sichtbar kann jede*r.“

Um zu überprüfen, ob meine neuen Piercings auch richtig sitzen, werde ich zur Mammografie in die Radiologie geschickt. Für diese Röntgenaufnahme der Brust verrenkt frau sich zu vollkommen widernatürlichen Körperhaltungen, während die anwesende Fachfrau für das Fotoshooting professionell die gepiercte Brust hart zwischen zwei Plexiglasscheiben in Form presst. Ich frage sie, ob sie das den ganzen Tag mache. Sie bejaht. Was für ein Job. Sehnsüchtig und erleichtert denke ich an mein harmloses kleines Zirkusbüro. Luft anhalten, lächeln, Foto, fertig. Meine Innen-Piercings sitzen perfekt.

Strahlende Schönheit

Zurück bei Professor Huhn stellt sich heraus, dass mir in den nächsten Monaten eine steile polytoxikomane Karriere bevorsteht und meine diesbezüglichen Parameter damit durch die Decke gehen werden. Der Therapieplan sieht nämlich Folgendes vor: 24 Wochen Chemotherapie, drei Wochen Pause, Operation, vier Wochen Pause, sechs Wochen tägliche Bestrahlung, danach fünf Jahre Hormontherapie. Mir blüht eine hohe Infektanfälligkeit, was mich in Corona-Zeiten zur Risikopatientin macht. Einmal in der Woche wird ein Blutbild fällig werden, alle drei Monate ein EKG und Herz-Echo.

Danach geht es zu Frau Professor Fischke, der Onkologin im sechsten Stock. Sie offenbart mir die Implantierung des Portsystems für die Chemo in den nächsten Tagen, klärt mich über potenzielle Nebenwirkungen inklusive Haut- und Haarproblemen auf und versorgt mich mit einem Stapel Rezepte gegen Übelkeit, Verstopfung und Schmerzen samt Erläuterungen. Als letztes händigt sie mir in diesem Zusammenhang noch ein Rezept für eine Perücke aus. Meine Befremdung nimmt kein Ende. Lotti hingegen zeigt sich zu Hause begeistert: „Cool, wir holen Dir eine in pink!“ Ganz meine Tochter: Wir machen die Krücke zum Zepter!

The Power of Less

Behalte, was dich glücklich macht!- Übrigens: Hotti trägt jetzt auch kurz (links im Bild)

Ferien! Nach einem bewegten Jahr (wir berichteten noch nicht) sehe ich freudig ein paar entspannten Tagen zwischen Nordmanntanne und den Heiligen Drei Königen entgegen, in denen ich mich – Gipfel des Hedonismus – ein kleines bisschen um mich selbst drehen kann, am Ende gar mit einem Buch auf der Couch. Wenn Du Gott zum Lachen bringen willst, mache einen Plan.

Weniger ist mehr

Einen Tag nach Weihnachten hält Hotti den Zeitpunkt für gekommen, den Gutschein für ihre Zimmerrenovierung (Streichen und neuer Teppich), den sie zum 15. Geburtstag bekommen hat, einzulösen. Sie beginnt mit Ausmisten, kann sich aber aufgrund ihrer Lebensphase zwischen den Welten nicht von liebgewonnener Materie trennen: Was tun mit den ersten selbstgenähten Herzchenkissen, der gemeinsam auf dem Flohmarkt erworbenen Sahne-Muh-Muh-Spardose in Milchkannenform oder der Lieblingsjeans, in die die heranwachsenden Kurven beim besten Willen nicht mehr reinpassen? Als gute und nicht ganz uneigennützige Mutter gebe ich dem ratlosen Teenager einen Artikel über Minimalismus – Drei Methoden für Einsteiger zu lesen, nicht zuletzt in der Hoffnung, dass erstens jede Menge Kinderkruscht vergangener Tage endlich unsere Wohnung verlässt und dass ich durch die Selbstbeschäftigung des Kindes zweitens ein paar Stunden Zeit für mich, das Buch und die Couch rausschinde.

Hot or not?

Hotti bedankt sich artig und schwirrt ab. Da steht Lotti auf der Matte, die, wie üblich in den Ferien, in einem Loch aus Langeweile und Strukturlosigkeit versinkt und fragt, was sie „ma‘ machen“ kann. Da ich keine Lust auf Brettspiele habe, antworte ich ebenso lächelnd wie berechnend: „Liebes Kind, hier, lies diesen großartigen Artikel über Minimalismus, Hotti liest den auch gerade, das schadet Euch gar nichts!“ Kurz danach geht es rund: Hotti und Lotti schleppen unermüdlich Berge von Spielzeug, Klamotten, Büchern, Bastelperlen und Müll aus ihren Zimmern, die sie, in Ermangelung von Kisten, im Flur, in der Küche und schließlich in meiner Acht-Quadratmeter-Residenz abladen. Sie übertrumpfen sich gegenseitig, wer besser loslassen kann, dazwischen rufen sie euphorisch Sätze wie „BOAH KRASS, was man alles nicht braucht!“ und „EY, ich behalt nur noch, was mich ECHT GLÜCKLICH macht!“ Während Lotti mir dabei alle paar Minuten Sachen vor die Nase hält, die eine Entscheidung verlangen – Hot or not? Gehen oder bleiben? – schaufelt die große Schwester alles, was sie ECHT GLÜCKLICH macht, rüber in Lottis Zimmer, um Platz zu schaffen für die Renovierung und fließende Energie. Genau so geht das die nächsten Tage weiter. Kisten gibt es immer noch keine („EY, ich geh‘ doch nicht RAUS!“), alles fliegt herum, unsere Wohnung gleicht einer Messie-Bude vom Feinsten, Hotti und Lotti hausen, schlafen und zanken nun gemeinsam in Lottis Chaoszimmer, an Hedonismus ist nicht zu denken. Immerhin hilft der Hotti-Lotti-Papa (HLP) tatkräftig auf der Baustelle und baut das Hochbett ab und um.

Rome wasn’t built in a day

Beim Streichen des künftigen Feng-Shui-Tempels bekommen Hotti, Lotti und ich uns vollends in die Haare, und als wir den Teppich rausreißen, prangt dort, wo der scheinselbstständige Teenager gerne seine nassen Handtücher auf den Boden zu werfen pflegt (Hotti: „EY, das hab‘ ich schon voll lang nich‘ mehr gemacht!“), ein nicht unbeachtlicher Schimmelfleck. Da Hotti nun erst mal auf eine Freizeit fahren und der Schimmel ohnehin tagelang besprüht werden muss, kommt es zum Baustellenstopp. Unsere Wohnung gleicht nun einer Messie-Bude vom Feinsten mit Chlorgeruch, Buch und Couch habe ich längst abgeschrieben, aber wie sagt der Buddhismus unter anderem? Wenn Du es eilig hast, geh langsam. Gut Ding will eben Weile haben, und Rom wurde auch nicht an einem Tag gebaut.

Die erste Schulwoche ist nun vorbei und Ansätze von zeitlicher und räumlicher Struktur kehren allmählich zurück. In unserer Messie-Bude stinkt es zwar immer noch nach Hallenbad, und Hotti schläft nach wie vor in Lottis Zimmer, wo sich Szenen wie im Tatort abspielen, aber die Teenie-Baustelle verzeichnet mittlerweile deutliche Fortschritte: Der HLP hat Laminat verlegt (aus hygienischen Gründen haben wir uns gegen Teppich entschieden), und er sagt, dass „das alles in zwei, drei Tagen fertig“ sei. Genau. Stuttgart 21 sowie der Berliner Flughafen sind schließlich auch kurz vor der Vollendung, und die Erde ist eine Scheibe.

It’s time

DSC_0154BlogWie der Buschfunk ja bereits kundgetan hat: Schatzi 1 und 2 haben endlich eine neue Wohnung. Und zwar eine, die sowohl größer als auch um einiges schicker ist als wir sie bräuchten – und in der logischen Konsequenz auch teurer als wir uns das so geplant hatten. Neben der nüchternen Tatsache, dass einfach nichts anderes funktionieren wollte, hat uns unser zukünftiges Luxusloft mit allerlei ausgefallenen Features in seinen Bann gezogen. Das Bild zeigt unsere zukünftige Oase der Ruhe über den Dächern Tübingens und der B27 in blau und rosa.

Wir performen mit authentischem Enthusiasmus

Als der unschuldige Makler bei der Besichtigung zunächst verkündet: „Hier haben wir gleich mal das Badezimmer“ kreischen beide Schatzis sofort in freudiger Hysterie auf: „Ein Badezimmer! Ein Badezimmer! Ey, krass, sogar mit Tür zum Zumachen und so!“ Der Makler zuckt nur kurz, dann macht er wieder routiniert seine Arbeit. Auf den Hinweis, dass es leider keine Badewanne gäbe, dafür aber eine hübsche Dusche schreien wir beide wieder: „Eine echte Dusche! Eine echte Dusche!“ Also eine echte Dusche, nicht ein schmaler Spalt zwischen Riesenboiler und Wand voller Spinnen, in den man sich mühsam reinquetscht, um dann unter einem dürftigen Rinnsal Wasser zu stehen, das nach 3,21 Minuten kalt wird. Die Maklerzüge entgleiten kurz. Es ist offensichtlich, dass unser Verhalten für ihn irgendwie nicht einordenbar ist. Doch er ist ein Profi und wir gehen weiter ins Wohnzimmer. Er versucht dort, die Fußbodenheizung (!!) anzupreisen, doch sofort stiehlt ihm Schatzi 2 (der Berufsfrosti in unserer Ehe) die Show, seufzt aus tiefster Seele „Fußbodenheizung“ und legt sich gleich mal der Länge nach auf den Boden, um ein Gefühl für das neue Luxusgut zu bekommen. Der Makler sieht sich nun doch mal genötigt, zu fragen, wo wir denn eigentlich gerade wohnen. In Bruchbuda, erklären wir wahrheitsgemäß und erzählen ihm von unseren Features. Letztlich fühlt er sich von uns offensichtlich äußerst gut unterhalten und leitet unser Interesse wärmstens an Frau Vermieterin weiter. Astreine Performance unsererseits und damit das Ende unseres Gastspiels in der Tübinger Immobilienhölle.

Unterstützung kommt aus der Heimat

Bruchbuda tut weiterhin alles, um uns das Leben schwer und den Abschied leicht zu machen. Da wären zunächst unsere expandierenden Mitbewohner. Die Tiffies sichern weiter ihr Territorium, schleppen ganze Dinkelflockenpackungen durch’s Haus und räumen sogar unsere Kirschkerneule aus (was diese uns ziemlich übel genommen hat). Seit einigen Wochen scheinen sie eine besondere Beziehung zu Schatzi 1 zu entwickeln und suchen ihn gerne nachts auf, um gepflegt ein bisschen rumzurascheln und die Kirschkerne aus der Eule in seinem Bücherregal zu deponieren. Verstärkt wird die Tiffyphalanx von verschiedenen Ameisenautobahnen in der Küche und einer Asselgroßfamilie, die regelmäßig samt einem großen Stück Putz aus der Wand in unsere Badewanne kippt. Soviel zur Tierpopulation. Kommen wir nun zum hauseigenen Degenerationsprozess. Wer mal in einem alten Haus gewohnt hat kennt das mit den Türen: Die einen fallen immer automatisch zu, die anderen gehen ständig auf. Türen in alten Häusern kennen keine Zwischenstufen wie halb auf oder fast zu, es gibt nur die zwei Extreme. Entweder ist die Tür ganz offen oder ganz zu – Ambivalenz unmöglich. Das schafft Ordnung und Orientierung, wie verschiedene Graustufenbehindis zu berichten wissen, die die Dinge gerne sicher eingetütet haben wollen. Bedenklich wird es allerdings, wenn die Türen plötzlich ihre Gewohnheiten ändern. Die immer offene fällt seit neuestem zu und die, die immer zu sein wollte öffnet sich ständig wie von Geisterhand. Das kann statisch betrachtet nichts Gutes verheißen! Aber es geht noch weiter.                                                    DSC_0155Blog1Während die werte Autorin auf ihrer Lieblingsmatratze sitzt und diesen Artikel schreibt blickt sie in unseren Ostflügel – ein kleiner, nachträglicher Anbau, der es ermöglicht hat, in Bruchbuda auch noch Luxusgüter wie Klo und Waschbecken unterzubringen. Dass unser Ostflügel ein wenig „arbeitet“ wissen wir. Es ist jeden Morgen spannend, zu schauen, ob sich der Winkel zwischen Wand und Kommode über Nacht verändert hat. Aber das hier (siehe Bild) geht dann doch zu weit! Auch unsere Haustür entwickelt eine ungeahnte Beweglichkeit. Der Rahmen um die Scheiben, der diese fest mit der restlichen Tür verbinden soll, ist inzwischen weggemodert. Die Scheiben schwingen bei jeder Bewegung frei mit – Haustür zuknallen ist deshalb jetzt streng verboten. Das machen wir zum dann zum Abschluss nochmal mit einem finalen Geschepper!

Die 3 Haushaltsangehörigen ohne und mit Fell kommen in einer WG-Sitzung zu dem Schluss: It’s echt sowas von time!

 

Wow!

vierzig
Vor meinem vierzigsten Geburtstag drückt der Große Geist noch einmal richtig auf die Tube. Man könnte auch sagen, er legt sich mächtig ins Zeug, gibt ordentlich Gas, lässt nichts anbrennen, großes Kino, Pauken und Trompeten, vom Feinsten, think big, kurz: er gibt alles.

Als ich bockige fünfzehn Jahre alt war, waren gerade Perestroika und Wind of Change, und ich hatte ein Vorbild: Gabriele Krone-Schmalz, „die erste Frau im ARD-Studio Moskau“. Gabi erklärte uns Deutschen aber nicht nur allabendlich Gorbi und die Situation vor Ort, nein, sie war auch um die vierzig, hatte streichholzkurze graue Haare und wirkte unfassbar seriös, souverän, gelassen und abgeklärt. Wenigstens sie schien die Dinge, vermutlich nicht nur in Moskau, voll im Griff zu haben. Damit hatte ich eine ziemlich genaue Vorstellung davon, wie frau mit vierzig Jahren so ist, und eben diese Zielmarke ließ ich in den letzten 25 Jahren keine Sekunde aus den Augen.

Wie Gabi in Moskau

So wurschtelte ich mich durch die Pubertät, die Adoleszenz, das Studium und wenn mich die Arbeit, schlaflose Babynächte, Trotzphasen und vorpubertäre oder andere irdische Unflätigkeiten mal wieder aus der Balance zu bringen drohten, stellte ich mir vor, wie ich eines Tages glorreich und mit wehenden Fahnen durch die 40er-Banderole stürmen und im selben Moment sämtliche Fallstricke, Widrigkeiten sowie die Vergangenheit hinter mir lassen würde, und ich wäre, so wie 1990 Gabi in Moskau, mit einem Schlag: unendlich seriös, souverän, gelassen und abgeklärt, kurz: auf der sicheren Seite. Soweit meine Vorstellung.

In der Realität spielt sich kurz vor dem großen Tag allerdings gerade folgender Showdown ab: Mit dem Hotti-Lotti-Papa könnte es, sagen wir mal, besser laufen, statt verfrühter Glückwunschkarten bekomme ich die Grippe und meine Mutter, mit der mich Zeit unseres Lebens eine doch recht unerquickliche karmische Verstrickung verband, segnet urplötzlich das Zeitliche und stirbt. Für den Großen Geist gibt es im Übrigen eine reelle Chance, dem Ganzen noch die Krone(-Schmalz) aufzusetzen, indem er die Bestattung meiner Mutter exakt an dem Tag stattfinden lässt, den ich mir ursprünglich zwar immer groß, pompös und frei von altem Ballast vorgestellt hatte, aber so dann irgendwie auch nicht. Nun gut, Contenance, wir sind schließlich quasi vierzig und nicht mehr fünfzehn, da sollte doch auch ein derartiger Unwahrscheinlichkeitsdrive in Würde zu schaffen sein. Und immer schön an Gabi denken.

3 Zimmer, Küche, Bad … Teil 4

20150130-DSC_0005Sie haben die automatische Selbstzerstörung aktiviert. Dieses Haus wird sich innerhalb der nächsten 20 Tagen selbst zerstören. Bruchbuda tut seit etwa zwei Wochen alles, damit wir uns nicht mehr wohlfühlen. Ihre Bemühungen konzentrieren sich auf den neuralgischen Punkt der Gemütlichkeit – unseren Ofen. Als einzige Heizmöglichkeit im oberen Stockwerk ist er für den Wohlfühlfaktor in diesem Haus unerlässlich.

Phase 1 – ein Spalt tut sich auf

Es begann mit einem leisen, geheimnisvollen Knack. Ein großer Riss zog sich plötzlich quer über die Ofenscheibe. Erkundigungen beim Master of Ofen ergaben Folgendes: Scheibe austauschen kostet 400 Euro. Allerdings entspricht der gute Wärmespender nicht der aktuellen Feinstaubverordnung – heißt, wir dürfen ihn nicht nach unserem Umzug woanders wieder betreiben, sondern er muss genau da bleiben, wo er jetzt steht. Der Rat, ihn doch unserem Nachmieter zu überlassen, ist zwar gut, scheitert aber an der Realität. Einen Nachmieter für ein abgerissenes Haus zu finden ist eine echt große Herausforderung. Wir rücken also die Scheibe wieder schön zurecht, heizen weiter und lassen uns tapfer auf den Gedanken ein, dass der Ofen samt alles Gemütlichkeit mit Frühlingsbeginn von uns gehen wird.

Phase 2 – ein Nebel zieht herauf

Beim nächsten Betreten des Obergeschosses schwebt ein dichter Nebel im Raum. Alles ist bedeckt von kleinen Ascheteilchen und ein unromantisch penetranter Geruch nach Lagerfeuer liegt in der Luft. Wir stellen fest, dass die Dichtung durch den Sprung in der Glasscheibe unwiederbringlich hinüber ist. Professionelle Hilfe scheint uns für die vier Wochen, die wir den Ofen noch brauchen unverhältnismäßig teuer. Also tun wir das, was alle zupackenden Menschen in einer solchen Situation tun: Wir fahren in den Baumarkt und machen unser Ding, weil’s gut werden muss. Dort erstehen wir ein neues Dichtungsband und – was das Tollste ist – eine riesige Kartusche Superofenkleber zum Abdichten. Wenn das mal kein langer Heimwerker-Schwanz ist, den wir da auf den Tisch legen! Eifrig machen wir uns ans Werk und kleben und schmotzeln ALLES zu, was irgendwie danach aussieht, als könnte es dem Rauch zur Entweichung dienen.

Phase 3 – das Finale

Frierend warten wir 24 Stunden, damit alles schön aushärten kann und blasen derweil mit Elektrogebläsen unser Geld zum Fenster hinaus. Dann ist es soweit. Wir entzünden ein Feuer und sitzen atemlos davor. Es macht wieder Knack. Und nochmal. Es folgt ein Geräusch, wie wenn ein Stück Eisschelf abbricht und wo vorher ein Riss war sind jetzt zehn. Bevor das ganze Ding explodiert löschen wir hastig das Feuer und verbringen die nächsten Wochen zwischen Elektrogebläse, Wärmflasche, Fön und der kleinen Tonne, in der wir unsere sauer verdiente Kohle abfackeln.

Es wird Zeit zu gehen!

 

3 Zimmer, Küche, Bad … Teil 2

20150130-DSC_0005-2Kleiner Abstecher auf die andere Seite

Da der Göttergatte an meiner Seite über ausgesprochen flotte kognitive Fähigkeiten verfügt und einen tief verwurzelten Groll gegen Menschen hegt, die mit Wohnungsnot Geld machen, betritt plötzlich eine andere Möglichkeit die Bühne. Kaufen statt Mieten! Anstatt irgendeinem gierigen Vermieter jeden Monat 900 Euro in den Rachen zu schieben würden wir einfach unser Obdach die nächsten 100 Jahre abbezahlen. Machen andere doch auch! Zunächst fühlt es sich erfrischend an, mal die Perspektive zu wechseln und die nächsten Tage wird gerechnet, bis das Gehirn den Siedepunkt erreicht. Was kostet sowas eigentlich und woher nehmen wir das Eigenkapital, um überhaupt für die Bank in Frage zu kommen? Eifrig wird die Familie abgegrast – zum Glück ist Blut dicker als Wasser und wir haben uns in den letzten Jahren nicht großartig daneben benommen.

Doch dann kommen wir zum ersten Minenfeld. Wie bezahlen wir die monatlichen Raten? Und da haben wir die ungemütliche Frage: Wer verdient hier eigentlich wieviel?? Und machen damit das erste große Fass auf:

Die Dimension der Rollenverteilung

Auch, wenn wir das nicht wahrhaben wollen: es gibt eine geschlechtsspezifische Rollenverteilung in unserer gefühlt äußerst alternativen Ehe. Der eine Ehepartner (wir nennen ihn mal Schatzi 1) ist beruflich gut verankert, vielfältig kompetent, visionär und verfügt über den nötigen Biss und die Ausdauer, um dahin zu kommen, wo er hin will. Vor der Höhle ist er unschlagbar, er würde auch Fleisch für 5 Junge nach Hause schleppen, wenn das nötig wäre.                                                                           

Der zweite Ehepartner (Schatzi 2) ist ebenfalls überaus visionär, kompetent, findig und fantasievoll, vor allem im Innen. Schatzi 2 kann die Höhle mit viel Liebe und Zauber in ein gemütliches Nest verwandeln. Außerdem hat Schatzi 2 die Fähigkeit, aus dem Nichts in zehn Sekunden zwei vollständig gepackte Rucksäcke für eine mehrtägige Wanderung herzuzaubern, dazu noch einen Hut und einen Salat. Schatzi 2 ist unschlagbar im Antritt, während Schatzi 1 über die Fähigkeit verfügt, Kräfte eher gleichförmig und kontinuierlich einzusetzen.

Da nun mal im Moment vor der Höhle leichter Geld zu vedienen ist als in der Höhle, geraten wir schnell von der Frage der Ratentilgung zum Einkommensgefälle und dessen Folgen. In Nullkommanix zaubert Schatzi 2 zahlreiche große Gefühle auf die Bühne. Vor diesen emotionalen Kulissen könnte man ohne Schwierigkeiten eine Wagner-Oper aufführen. Es treten auf:

Schuld: Hätte ich doch was Gescheites gelernt!
Kapitalismuskritik: Das liegt alles am System!
Ein Minderwertigkeitsgefühlchen: Du verlässt mich bestimmt bald wegen irgendeiner erfolgreichen Karriereschnecke!
                            
Und während Schatzi 1 noch versucht, zu begreifen, wie ihm geschieht, kommt Schuld die Zweite: Jetzt sag doch auch mal was!

Die Dimension der Identität

Nachdem wir es doch geschafft haben, die unheilvolle Wagner-Oper am Ende des 4. Aktes abzuwürgen, fliegt uns leider das nächste Fass um die Ohren. Der Kauf einer Wohnung ist nicht nur ein Geld- und damit auch ein Rollenproblem, sondern auch eines der eigenen Identität. Uns fällt plötzlich wieder ein, dass wir beide eigentlich aus der Tübinger Hausbesetzerszene kommen. Wir haben vor dem Rathaus campiert, getrommelt und gepfiffen, all unsere Bettlaken in Transparente umgewandelt und waren bereit, uns an die nächstbeste Heizung zu ketten, bis irgendein Räumkommando uns losgeschnitten hätte. Die Häuser denen, die drin wohnen und so! Wir versuchen, uns damit zu trösten, dass wir ja dann drin wohnen und uns die Wohnung gehört und das zumindest oberflächlich betrachtet kein Widerspruch zu unseren Parolen von damals ist. Leider hält diese kleine Selbsttäuschung nicht lange stand. Der Besitz einer eigenen Immobilie ist einfach echt nicht mehr Punkrock, egal, wie man es anmalt.

Der Markt regelt das

Bevor wir unsere Identität zwischen Spießigkeit und Punkrock neu ausloten können kommt uns der Markt zu Hilfe. Ein Makler schickt uns Unterlagen zu einer 3-Zimmer-Wohnung, die ein paar Straßen weiter für schlappe 180.000 Gänseblümchen zu haben ist. Nach kurzer Zeit wird klar, dass diese Wohnung ein finanzieller Sargnagel ist. Es sind weder die Kosten der bereits erfolgten Dachsanierung gedeckt, noch haben wir bei Entscheidungen, das Haus betreffend, irgendwas mitzureden. Als kleinen Ausgleich dafür dürfen wir aber die Hälfte aller anfallenden Kosten bezahlen, obwohl wir weniger als ein Drittel der Fläche besitzen. Wir entscheiden uns für den sofortigen Rückzug auf die Seite der Besitzlosen und verschanzen uns erstmal mit Alkohol, Drogen und Bad Religion im Keller.

3 Zimmer, Küche, Bad … Teil 1

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Was lange befürchtet war wird nun Realität. Unser heißgeliebtes charmantes Haus namens Bruchbuda wird abgerissen und durch ein schickes Mehrfamilienhaus ersetzt. Für unsere Vermieter bedeutet das, mit Besitz noch ein bisschen mehr Geld zu verdienen und für uns, ohne Besitz plötzlich auf dem leergefegten Lingendinger Wohnungsmarkt rumzustehen und uns irgendwoher eine bezahlbare Bleibe zaubern zu müssen. Momentan oszillieren wir in der Trauerarbeit irgendwo zwischen Nichtwahrhabenwollen, Flucht in Aktionismus und aggressiver Auflehnung. Spontane erste Versuche, unserem Schicksal zu entgehen sind gescheitert. Trotz liebevoller Pflege und intensivem UV-Lampen-Einsatz ist in unserem Frühbeet bisher keine Kohle gewachsen und auch der Versuch, uns einfach eine neue Bruchbuda zu häkeln, war leider erfolglos.

Erste zaghafte Schritte

Ein vorsichtiges Hinauswagen auf den Markt gleicht dem Aufbruch zu einer Arktisdurchquerung. Es gibt fast nix außer Ödnis, es ist saukalt und trotzdem bläst’s von allen Seiten. Wir kämpfen uns durch die Anzeigenflut, telefonieren und tanzen da und dort vor. In unserer Preisklasse hören wir Sätze wie „Also ich muß die Wohnung ja nicht anpreisen, weil die ist eh spätestens morgen weg, wissen Sie?“ Ja, wir wissen und starren auf die vierspurige Straße direkt vor der Haustür, die dazu führt, dass die Wohnung in unterschiedlichen Erschütterungsgraden mitschwingt. Wir geben uns Mühe und versuchen es mit einem humorigen Namen: Nach Bruchbuda jetzt Earthquaka? Hmm…!

Ja, wir wissen – auch angesichts des ranzigen Linoleumbodens aus den 60ern in einer Kellerwohnung, die riecht, als hätte man sie mit einer Mischung aus Heizöl und Mottenkugeln geflutet. Wir nennen sie Deepwater Horizon und stellen uns vor, wie diese „schicke Wohnung in gepflegtem Zustand“ mit dem Anzünden der ersten Zigarette in der neuen Bleibe einfach in die Luft fliegt. Fühlt sich für uns insgesamt recht stimmig an.

Und ja, wir wissen – und bewundern das weißgekachelte Wohnzimmer, das im ehemaligen Schlachtraum der ehemaligen Metzgerei sein soll – „Man kann da ja ein paar Bilder aufhängen, dann wird das schon gemütlich!“ Und fragen uns, wieviel Tonnen Bilder man wohl braucht, um im eigenen gemütlichen Wohnzimmer nicht mehr an Fleischerhaken und halbe Säue zu denken. Das mit dem humorigen Namen lassen wir lieber ganz.

Am Allerschlimmsten ist, dass man dauernd die Contenance wahren muß. Die Macht sitzt auf der anderen Seite des Tischs. Also hört man sich das ganze Geschwätz über die unschlagbaren Vorteile hässlicher Wohnungen an und bewahrt Haltung. Man kann ja dann später außer Sichtweite vor Wut in Tränen ausbrechen oder sich in irgendeine Blumenrabatte erbrechen. Bezaubernde Terassen, lichtdurchflutete Wohnzimmer, ausreichend Distanz zu vierspurigen Bundesstraßen und viele Ansatzmöglichkeiten für wohlklingende Namen voller Gemütlichkeit gibt es natürlich auch – ab 1000 Euro kalt und als Utopia. Oder am Arsch der Welt, zu dem zwei Mal am Tag ein Bus fährt. Wir nennen diese Außenposten Neumayer III – nach der 2007 erbauten deutschen Polarforschungsstation in der Antarktis.

Nach diesen ersten verstörenden Schwimmversuchen auf dem freien Wohnungsmarkt verlassen wir hastig die Phase des Aktionismus und flüchten uns vorübergehend wieder in die Verdrängung, da uns die Taschentücher ausgehen.

In tiefer Trauer um einen zauberhaften Ort

Ma Baker