Walk on the wild side

Wie ja bereits erwähnt ist man in unserem Alter vor allem im Urlaub damit konfrontiert, dass die eigene Freakigkeit indirekt proportional zum kalendarischen Alter abnimmt. Man braucht es geordnet und schön – also keine Wanzen im Bett, kein Puff im Zimmer nebenan, keine intensiven Zeiten in verlassenen Bushäuschen! Schließlich gehen wir auf die vierzig zu. Auch in diesem Jahr verspüren wir allerdings das Bedürfnis, trotzdem möglichst nahe an das Bild des alternativen Rucksacktouristen ranzukommen. Letztes Mal hat uns dafür noch der Trick mit den staubigen Wanderstiefeln gereicht, die in keinster Weise vermuten ließen, dass wir unseren klimatisierten Mietwagen erst vor zwei Minuten sicher im Gebüsch versteckt hatten, bevor wir am Ende unserer Kräfte in die nächste Taverne gekrochen sind. Dieses Jahr brauchen wir die verschärfte Version. Immer wieder angebotene Klettertouren bringen uns auf die glorreiche Idee. Wie wahnsinnig krass und alternativ würde es wohl aussehen, wenn wir neben den staubigen Wanderstiefeln noch jeder ein langes Seil und mehrere Karabiner außen am Rucksack befestigen würden? Die machen Kreta nämlich nicht nur zu Fuß, sondern auch noch querfeldein, Alter!

Im einzigen Trekkingladen der Südküste stellen wir sehr schnell fest, dass wir improvisieren müssen, da unser kleiner Gag sonst unsere Urlaubskasse auffressen würde. Also ab in den griechischen Baumarkt. Dort gibt es verschiedene Wäscheleinen, die ordentlich was hermachen sowie metallig schimmernde Plastikkarabiner zum Einhaken von Sonnenschirmen am Strand. Nun sind wir gerüstet! Wir parken unseren Mietwagen gut versteckt hinter einem Müllhaufen und spazieren einen gut befahrenen Weg den Berg hinauf. Die Einmündung zu einem chilligen Touri-Strand lassen wir verächtlich links liegen und schieben uns fröhlich über diese langweiligen Strandurlauber lästernd weiter den Berg hinauf. Als uns eine Karavane von Jeeps begegnet, die Neckarmann-Urlauber die Küste entlang kutschiert, jubeln uns alle Insassen zu und schenken uns zahlreiche respektvoll hochgereckte Daumen. Die Sache fängt an, uns wirklich zu gefallen und wir fühlen uns zunehmend heimisch in unserer Tarnung, die wir fleißig mit erfundenen Anekdoten ausschmücken. Es wird immer heißer, wir zunehmend selbstverliebter und die Anekdoten, die unserer überhitzten Fantasie entspringen, immer abgefahrener. Der Übergang zwischen Realität und Fiktion verschwimmt nach und nach. Schließlich walken wir hier voll on the wild side!

Als wir endlich oben sind entdecken wir eine wilde Schlucht, die wieder zurück ins Tal führt. In völligem Einvernehmen verlassen wir den sicheren Pfad und entscheiden uns für Adventure. Die Tatsache, dass diese Schlucht in unserem Reiseführer nicht erwähnt wird schreiben wir der Inkompetenz des Autors zu und gedenken, ihn darauf auch aufmerksam zu machen. So kämpfen wir uns im maximalen Wild-Modus den steilen Hang hinunter durch Geröll und Dschungel, trotzen wilden Tieren und überwinden alle erdenklichen Hindernisse – bis wir am Fuß der Schlucht plötzlich vor einem fünf Meter tiefen Abgrund stehen, der unserem wilden Walk ein ernüchterndes Ende setzt. Ohne Kletterausrüstung und das nötige Know-how nicht zu überwinden, darin sind wir uns einig. Ernüchtert starren wir auf unsere Plastikkarabiner und die Wäscheleine und sind ein wenig peinlich berührt. So haben wir uns das nicht vorgestellt.

Schließlich bleibt den krassen Adventuristen nichts anders übrig, als sich seitlich die Schlucht wieder hoch zu kämpfen, um den Abgrund in einer riesigen Schleife zu umgehen. Wir rutschen desillusioniert von Dornengestrüpp zu Kaktus, fallen uncool auf den Arsch oder in verschiedene Sorten von Drecklöchern und tragen sehr zur Unterhaltung der anwesenden Ziegenpopulation bei, welche uns interessiert folgt. Nach vier Stunden aufreibenden Umherirrens überwinden wir im Tal unser letztes Hinderniss – einen Ziegenzaun – und werden dort endlich unsere Groupies los. Wir ziehen uns mit letzter Kraft in die nächste Taverne zurück, um dort unsere Erfahrung in Ruhe zu verarbeiten. Auch dort sorgen wir unter den Einheimischen wegen unseres ziegendreckverschmierten, abgerissenen Erscheinungsbilds für Erheiterung und man versorgt uns großzügig mit Alkohol. So langsam tritt wieder Entspannung bei uns ein. Da nähern sich zwei braungebrannte, barbrüstige Mittzwanziger. Mit einem anerkennenden Blick auf uns und unsere Kletterausrüstung fragt der eine, unverkennbar ein Österreicher: „Ihr seid’s doch coole Typen, oder? Habt’s Lust, mit uns a Seilschaft zu machen und morgen den Psiloritis (Anm.d.Red.: höchster Berg Kretas, 2456 Meter) zu besteigen?

Über unseren unschönen Abgang, bei dem drei Plastikkarabiner zerstört wurden und eine Wäscheleine und ein Klofenster auf den Hinterhof eine entscheidende Rolle gespielt haben sollen, muss hier geschwiegen werden.

Vielerarts Müll

Deutsche sind ja bekanntlich Meister der Mülltrennung und werden dafür vielerorts milde belächelt. Wir sortieren etwa 20  Hauptmüllsorten in verschiedenfarbige Gefäße und Säcke. Papier in die blaue Tonne, Bioabfall in die grüne, Restmüll in die graue und – besonders faszinierend – den grünen Punkt in den gelben Sack! Man könnte denken, damit wäre das, was im normalen Haushalt an Müllsorten anfällt, abgedeckt. Doch das ist ein weit verbreiteter Irrtum.

Jedes Jahr, wenige Stunden, bevor alle Haushaltsangehörigen in den Urlaub verschwinden, stehen wir vor dem selben Problem. Die alltägliche Sorge darüber, dass irgendwie zu wenig leckeres Essen im Haus sein könnte, beschert uns am Abreisetag einen Kühlschrank, der gut gefüllt ist mit Dingen, die man nicht alle mitnehmen kann. In vorderster Reihe stehen aktuelle Konsumgüter wie der Kürbis-Shiitake-Aufstrich aus der Bioboutique, gefolgt von der halb gegessenen Schinkenwurst in Dose. In zweiter Reihe findet die aufmerksame Betrachterin bereits Herausforderungen auf Level 2. Der fettarme Frischkäse, den man vor einer Weile für 1,5 Tage als gesund machenden Butterersatz benutzt hat ( is ja alles ne Frage der Einstellung, ne?) hat grüne Flecken, die nicht von Kräutern herrühren. Daneben liegt Grillgut, das man vor geraumer Zeit mal einen Nachmittag durch die Hitze getragen, dann aber leider keine Grillstelle gefunden hat. Es folgen verschiedene pelzige Milchprodukte und eine angerissene Packung Meeresfrüchte, welche angeblich keiner gekauft und die ebenfalls ihren Zenit überschritten hat. Der Urlauber in Eile stellt eine kurze Überlegung an, die im Wesentlichen daraus besteht, sich auszumalen, wie sich der Kühlschrankinhalt in den nächsten 3 Wochen weiterentwickeln würde, wenn man die Sache einfach auf sich beruhen ließe. Angesichts dieser Horrorvision spaltet er die Geschichte mit den hungernden Kindern in Uganda pragmatisch ab und packt alles hastig in eine große Mülltüte, um diese umgehend in der grauen Restmülltonne zu versenken. Aus den Augen aus dem Sinn – so hofft man.

Beim Schließen des Deckels beschleicht einen aber ein mulmiges Gefühl. Man bemerkt, wie heiß es ist. Wann wird nochmal die Tonne…? Ah, in 2 Wochen…! Unangenehme Erinnerungen drängen sich ins bereits leicht rosa getönte Urlaubsbewusstsein. An entsetzlichen Gestank, wimmelnde Maden und Hühnerherzen in Plastik, fassungslose Nachbarn, kotzende Haushaltsangehörige und den heiligen Schwur, so etwas NIE WIEDER zu tun!

Schnell nimmt man den Müllsack wieder aus der Tonne. Wohin also damit? Vergraben? Dauert zu lange. Irgendwo aus dem Auto schmeißen? Is echt unverschämt. Dann kommt der rettende Einfall: Einfrieren! Unter Umständen bereits begonnene mikrozelluläre Veränderungsprozesse stagnieren einfach und ermöglichen bei Rückkehr aus dem Ferienparadies eine tiefere Auseinandersetzung mit dem Problem und das Ersinnen einer nachhaltige Lösung. Freudig nennen wir unsere neu erschaffene Müllsorte den GEFRIERMÜLL und beginnen hastig damit, im Gefrierfach Platz zu schaffen. Dabei stoßen wir auf eine überaus fest verknotete Tüte mit einem Totenkopfsymbol, die keiner von uns je gesehen hat. In stillem Konsens vermeiden wir jeden weiteren Versuch, diesem Mysterium auf den Grund zu gehen, quetschen Gefriermüll neben Todesmüll und suchen das Weite.