Pest oder Cholera
Nach vier Doppelpack-Dröhnungen Epirubicin und Cyclophosphamid im Zweiwochentakt, die hoffentlich nie wiederkommen, gibt es ab sofort jeden Dienstag Paclitaxel und das zwölf Wochen lang. Was klingt wie ein Zaubertrank bei Asterix, ist Pazifische Eibe und im Global harmonisierten System zur Einstufung und Kennzeichnung von Chemikalien mit den Symbolen für „Ätzwirkung“, „Gesundheitsgefahr“ und „Reizend“ versehen. Nach Aussage der Ärzt*innen sei dieses ganz reizende Zeug aber „besser verträglich“ als das vorige, löse eher keine Übelkeit aus, dafür aber möglicherweise bleibende Polyneuropathien, also Empfindungsstörungen und Lähmungserscheinungen in Händen und Füßen. Vor die Wahl gestellt, kann man sich schier gar nicht entscheiden. Seite an Seite mit dem ätzenden gallischen Zaubertrank kämpfen zudem neuerdings zwei mexikanische Gottheiten gegen den Drecksack, nämlich die Antikörper Trastuzumab und Pertuzumab. Diese beiden können nicht nur Tumorzellenwachstum verhindern, sondern auch Herzschädigungen und Durchfall hervorrufen. Aber wie schrieb Doc Huhn ebenso beruhigend wie lakonisch aus dem Off? „Keine Angst.“ Na, dann los!
Spaß mit der Relax-Funktion!
Der Ultraschall ist hart verdient. Zunächst gilt es, fünf öde Stunden mit Infusionen hinter mich zu bringen, die mich in eine Art Halbdämmer versetzen und mein Gehirn für den Rest des Tages komplett vernebeln. Ich döse vor mich hin, nicht mal meine Weihnachtsheft-Kollektion reißt mich aus meiner Apathie. Gegen Mittag jedoch kommt Leben in die Bude. Da die Tagesklinik plant, neue Chemo-Liegen anzuschaffen, wurden zwei verschiedene Modelle zum Testen aufgebaut (ein altes Modell sei laut Schwester mal samt Patientin umgekippt). Mit dem besseren soll langfristig nachgerüstet werden, und nun ist die Meinung der Patientinnen gefragt. In diesen fragwürdigen Genuss, das neue Möbel testen zu dürfen, kommt heute die recht betagte Dame neben mir.
Abgesehen davon, dass die Polsterung, die gleich drei poppig-schrille Quietschfarben in sich vereint, eine ästhetische Zumutung ist, findet die Testerin den Stuhl spontan „unbequem“. In diesem Zusammenhang wird sie von der Schwester auf die Fernbedienung hingewiesen, mithilfe derer sie sich in eine bequemere Position bringen könne. Dabei, so die Schwester, müsse sie, die Dame, jedoch aufpassen, da sich der am Stuhl festmontierte Tisch gleichzeitig mit der Liege neige. Die Patientin solle also ihre Tasse beim Runterfahren der Rückenlehne in die Hand nehmen und dann, in der gewünschten Position angekommen, die Tasse wieder auf das Tischchen stellen. Allein, das Tischchen verharrt – ebenso wie die Rückenlehne – in einem 45-Grad-Winkel, sodass sich beim besten Willen gar nichts darauf abstellen lässt. Die Test-Omi schimpft: „So ein Schwachsinn! Und wo soll ich jetzt mit meiner Tasse hin?“ Aber sie gibt nicht auf, und durch meinen Chemo-Nebel höre ich, wie sie stoisch mit ihrer Testreihe fortfährt. Plötzlich tut es einen Schlag, erschrocken fahre ich von meiner Liege hoch. Neben mir sitzt die Dame mit weit aufgerissenen Augen senkrecht auf dem topfebenen Höllengerät, die Rückenlehne ist ruckartig und mit einem Riesenlärm gegen die Steckdosenleiste an der Wand gekracht. „Was war jetzt des?“, will sie wissen. Die Schwester erklärt: „Oh – das ist die Relax-Funktion!“ Das Urteil der Test-Omi steht: „Also, des is nix.“Blühende Landschaften
Nach dieser Slapstick-Einlage und zwei weiteren öden Stunden darf ich endlich zum Ultraschall. Routiniert erklimme ich die Liege, die Ärztin (eine andere als beim letzten Mal) sucht mit dem Sonoding den Drecksack in meiner linken Brust, und wie ihre Kollegin vor einigen Wochen fragt auch sie schließlich ratlos: „Wo ist der denn?!“ Immerhin findet sie einen der Clips, die Doc Huhn mir als Marker der ursprünglichen Tumorgrenzen eingepflanzt hat. Dann sagt sie: „Hm, also ich sehe hier so eine Strukturauffälligkeit, das müsste er sein…“ Sie nimmt großzügig Maß und kommt auf schlappe sieben mal sieben Millimeter. Ja Donnerwetter noch eins, das nenne ich mal einen steilen Abstieg: von einem aprikosengroßen Geschwür hin zu einer „Strukturauffälligkeit“, die sich zudem kaum noch ausmachen lässt! Wenn das so weitergeht, werden sie bei der nächsten Sonografie blühende Landschaften an der Stelle finden, wo einst der Drecksack hauste.
Endlich darf ich heim, mittlerweile fühle ich mich annähernd wie auf K.o.-Tropfen. Zu Hause falle ich direkt ins Bett und schlafe bis zum Abend. In den nächsten Tagen sind Paclitaxel, Trastuzumab und Pertuzumab meine ständigen Begleiter: Ich kann Großteilen von Konversationen nicht folgen, alles geht viel zu schnell, ich drifte immer wieder weg und werde zur intellektuellen Schnecke. Ansonsten brennt und juckt die Haut an meinen Händen und Füßen, in den Händen kribbelt es, und ich habe Durchfall. Insgesamt jedoch ist der neue Stoff weniger verheerend als der erste: Mir ist nicht mehr den ganzen Tag schlecht, sodass ich endlich aufhören kann, Sauerkraut, Salami und Senf zu essen. Und bekanntlich sind es ja die kleinen Dinge im Leben, die Freude machen.