Abfahrt!

Hurra, es hat geschneit!

Hurra, es hat geschneit! Mit unserem nagelneuen Dreier-Schlitten vom Christkind, dem uralten Zweier vom letzten Jahrtausend, zwei Popo-Rutschen und den Salvatores stürmen Hotti, Lotti und ich den Mount Österreich, den Hausberg unseres idyllischen Städtchens Lingendingen. Die Salvatores sind: Giannini, meine weise Freundin mit dem Klo-Tipp für Silvester, Lorenzo, ihr charmanter Mann und exquisiter Koch, Luigi, der Erstgeborene und Rennfahrer sondergleichen, Pannini, bester Karussellanschubser- und Bauernhoffreund von Hotti, Esmeralda, ein ausgemachtes Energiebündel, das noch durchs Haus tobt, wenn ihre Mutter nachts um zwei auf dem Bügelbrett einschläft, und Popeye, der gutmütige Eisbärhund. Letzterer sieht tatsächlich aus wie ein Eisbär, auf der Piste ist er quasi unsichtbar, und es grenzt an ein Wunder, dass er den Tag ohne auch nur eine Kufe in den Rippen übersteht.

Kreischende lila Streifen fliegen an mir vorbei

Die Piste ist bockelhart, erdverkrustet, sausteil und geht ab wie Schmidts Katze. Während von Hotti den ganzen Tag nur kreischende lila Streifen an mir vorbeifliegen: „MAAMMMMAAAA, VON GAAAANNZ OOOOOBEEEEEEN!!!!!!!“, tastet Lotti sich Hügelchen für Hügelchen den Mount Österreich empor. Jede Abfahrt ein Hügelchen weiter nach oben. Schließlich fahren auch wir VON GAAAANNZ OOOOOBEEEEEEN, auch wir kreischend bis zum Asphaltweg und Pistenende, und Lotti kommt zum Ergebnis: „Ich hab zwar Angst, aber es macht total Spaß!“ Eine sehr gute Einstellung, wie ich finde, nicht nur zum Rodeln im Speziellen, auch zum Leben im Allgemeinen: „Ich hab zwar Angst, aber es macht total Spaß!“

Wir brauchen Bobs!

Als Luigi vorschlägt ein Rennen zu fahren, äußert Lotti zwar Vorbehalte („Ich renn nicht, ich fahr lieber.“), macht aber trotzdem mit. Luigi nimmt den Bob und wird erster, Lotti und ich mit Schlitten zweite, Lorenzo dritter. Nochmal! Beim Abschlussrennen nehmen Lotti und ich den Bob, das geht ab, und werden erste, Giannini schanzt, ebenfalls mit Bob, drei Meter und taucht erst etwas später wieder auf, Lorenzo ist unauffindbar. Am Ende des Tages steht fest: Man hat Angst, es macht Spaß, und wir brauchen Bobs!

Waterloo

Abfahrt ins Nordhaus!

In einer Leistungs-gesellschaft wie der unseren unterliegen gesellschaftliche Festi-vitäten wie Geburtstage, Weihnachten, Ostern und bald vermutlich auch der Buß- und Bettag streng dem Leistungsdiktat und müssen entsprechend erfolgreich und dynamisch, mindestens aber glücklich und harmonisch begangen werden. Das gilt natürlich erst recht für Silvester. Unter einer knackig-krachenden Fete mit 100 gutgelaunten Leuten, einem exklusiven Urlaub in einem exotischen Feriendomizil oder auch einem gediegen-idyllischem Jahreswechsel auf irgendeiner Waldlichtung mit Lagerfeuer und entferntem Feuerwerk am Horizont läuft gar nichts. Wer das nicht auf die Reihe bekommt, ist ein Versager.

Ich habe versagt

Umso mutiger zuzugeben, wenn ein Fest, nennen wir es aus gegebenem Anlass Silvester, so richtig in die Hose geht. Um einem meiner Lieblingsmottos (Jeden Tag eine mutige Tat) auch 2010 die Treue zu halten, beginne ich dieses blütenreine, taufrische und erfolgversprechende neue Jahr mit dem Bekenntnis, dass der hinter mir liegende Jahreswechsel mit Abstand der katastrophalste und erfolgloseste meines bisherigen Silvester-Lebens war. Ein Desaster.

Das kam so: Ich hatte Hotti und Lotti erfolgreich zu ihrem Vater organisiert, um mal wieder ein Silvester richtig abfeiern zu können. Dabei hatte ich leider übersehen, dass sich sämtliche meiner FreundInnen ebenfalls erfolgreich wegorganisiert hatten: zum Hops-Kurs nach Bayern, mit Freunden nach Italien (2x), zur Schwitzhütte nach Buxtehude, mit Schnucki zu Kollegen und der Rest „ganz gemütlich zu Hause mit der Familie“. Super Sache. Macht nichts, denke ich, Du bist groß, Du bist erwachsen, Du bist mutig und zu allem entschlossen, gehst Du eben alleine tanzen. Zur Silvesterparty ins Nordhaus, einer beliebten Kulturstätte mit Tanz und Kneipe. Dort triffst Du vermutlich eh Hinz und Kunz, Abfahrt!

Ein Obdachloser steht vor mir: Coole Frisur!

WEIT gefehlt. Ich treffe weder Hinz noch Kunz, sondern nur 150 20jährige und 20 150jährige inklusive mir. Das Flair einer Abi-Party. Um die Situation zu entemotionalisieren, bemühe ich mein Heilig-Abend-Mantra: Es ist einfach nur Donnerstag (nicht Silvester), und ich will einfach nur tanzen. Und um zwölf werde ich mich, dem Rat meiner weisen Freundin Giannini folgend, auf dem Klo verbarrikadieren und danach weitertanzen.

Doch es kommt anders. Als ich mich um zwölf auf dem Klo verbarrikadieren will, bittet mich die Security freundlich, aber bestimmt in den Hof, sie schlössen jetzt ab, und zwingt mich, mir Horden von blendend gelaunten, glücklichen, knutschenden, sich in den Armen liegenden 20jährigen beim Silvesterfeiern zuzuschauen.

Es kann nur besser werden - oder?

Als ich denke, schlimmer kann es nicht mehr kommen, steht plötzlich ein 150jähriger Obdachloser vor mir und sagt: Coole Frisur! Schlimmer geht immer, auch 2010. Den Todesstoß versetzen mir schließlich drei Mädels eine Stunde später, indem sie mich in der Warteschlange vor dem Klo anstrahlen: Wir müssen gar nicht, gehen Sie ruhig vor! Frohes neues Jahr. Nach diesem Silvester kann es eigentlich nur besser werden – oder?