Ausflug in die Nuklearmedizin

Ich hab' Uran im Urin, da hilft kein Aspirin.

Ich hab‘ Uran im Urin, da hilft kein Aspirin.

Mit der Diagnose Krebs bekommt man so richtig zu tun. Noch bei unserem ersten Treffen scheucht mich Professor Huhn zur Magnetresonanztomographie (MRT), um über Magnetfelder meinen Körper nach Metastasen zu durchsuchen. In der Radiologie lege ich mich, nackt bis auf die Unterhose und ein vorne offenes Flügelhemdchen, bäuchlings auf eine Liege, die dann in die Röhre fährt. Dabei bietet die Liege nicht nur eine Öffnung fürs Gesicht, damit man bei potenziellen Panikattacken überhaupt noch Luft bekommt, sondern auch zwei kleinere Öffnungen auf Brusthöhe, durch die die Brüste baumeln. Als Krönung werden diese zusätzlich zwischen Plexiglasscheiben fixiert, vermutlich auch, damit sie bei dem Höllenlärm, Geruckel und Gewummer der nun einsetzenden Großbaustelle schön stillhalten und so vorteilhaft wie möglich abgelichtet werden können. Nach zwanzig Minuten in dieser unwürdigen Haltung bei kakophonischer Beschallung wanke ich verstört im Flügelhemdchen zurück in die Umkleide, ziehe mich an und lasse mich von Chéri ins sichere Zuhause chauffieren.

Date in der KRÖNA-Klinik

Ein paar Tage später geht es ins CT. Als erstes verlaufe ich mich im Labyrinth der KRÖNA-Klinik, komme zu spät und werde von der diensthabenden MTA barsch zurechtgewiesen. Als sie mir das Kontrastmittel in meine lädierten Venen spritzt, platzt ein Blutgefäß. Es tut ziemlich weh und ich breche in Tränen aus. Die MTA schaut mich verständnislos an und meint: „Das ist nur ein Blutgefäß, das ist nicht schlimm.“ Beim CT selbst gibt es einen metallischen Geschmack auf der Zunge, und meine Blase wird plötzlich so warm, dass ich fürchte, in die Hose gemacht zu haben. Ma Baker holt und rettet mich mit Himbeertorte, und ich gelobe, beim nächsten Date in der KRÖNA-Klinik deutlich mehr Zeit einzuplanen.

Richtig aufregend wird es dann in der Nuklearmedizin, deren Name an sich schon Abenteuer und Adrenalin verspricht. Dort soll mithilfe eines Knochenszintigramms ermittelt werden, ob sich Metastasen in meinen Knochen niedergelassen haben (Spoiler: haben sie nicht). Bevor ich zu Hause aufbreche, meint Lotti: „Hey, voll cool – bring unbedingt ein Bild von Deinem Skelett mit!“

„Das ist mir noch nie passiert, ich schwöre!“

Für so ein Szintigramm bekommt man erst einmal eine Ladung radioaktives Kontrastmittel injiziert. Im Aufklärungsbogen befinden sich u.a. folgende Hinweise:

„Die Ausscheidung der Substanzen erfolgt über den Urin. Beschränken Sie am Untersuchungstag den Umgang mit Kindern und Schwangeren auf Notwendiges.

Am Untersuchungstag ist Ihr Urin radioaktiv. Sie sollten bei Toilettengängen vorsichtig sein, achten Sie auf Ihre Kleidung [was bedeutet das?, Anmerk. die aktuelle].“

Die Injektion übernimmt eine sehr junge Ärztin, die offensichtlich bemerkt, wie hasig und weinerlich ich bin, und gleich beruhigend auf mich einredet: „Kein Problem, da müssen Sie keine Angst haben, es wird alles gut!“ Ich klammere mich an ihre Worte und die Hoffnung, dass sie weiß, was sie tut. Zunächst weiß sie das auch, legt mir einen Zugang, holt die Spritze aus dem kleinen James-Bond-Metallköfferchen und legt los. Ich schaue weg, Spritzen kann ich nicht sehen. Plötzlich verliert die Ärztin die Nerven und schreit los: „Oh mein Gott! OH MEIN GOTT! Oh nein, das ist mir noch nie passiert, ICH SCHWÖRE, wirklich!!!“ Ich schaue zu meinem rechten Arm, aus dem kleine Blutfontänen spritzen, schnappe mir einen Wattebausch und halte den Zugang dicht, während die arme Frau kreideweiß die Hände ringt. Ich frage sie, was denn passiert sei. „Nichts“, sagt sie, „mit Ihnen ist alles in Ordnung!“ Dann beteuert sie nochmals, dass ihr sowas wirklich noch nie passiert sei („Ich schwöre!), verklebt meinen Arm mit unzähligen Pflasterstreifen und verabschiedet mich hektisch.

„Ich hab‘ Uran im Urin“

Alarmiert und irritiert verlasse ich die Nuklearmedizin für eine dreistündige Pause, da sich das Zeug jetzt erst mal in meinem Körper verteilen muss. Ich treffe Chéri auf ein Schokocroissant, und er fragt mich, ob ich eigentlich den Achtziger-Jahre-Hit „Ich hab‘ Uran im Urin “der Band Wiederwillen kenne – bisher noch nicht.

Als ich später zur Nuklearmedizin zurückkehre, um endlich mein Skelett-Foto zu machen, schlurft die arme junge Ärztin mit hängendem Kopf über den Campus. Ich frage sie, ob wieder alles in Ordnung wäre. Sie schaut mich aus tiefen Augenringen an und sagt leise: „Ich bin so müde.“ Ich hoffe nur, dass sie nicht auf dem Weg zur nächsten Schicht ist. Das Rätsel um den Vorfall kann ich nicht lösen, Ma Baker als ehemalige Schwester mutmaßt jedoch, dass die Gute womöglich radioaktives Zeug verläppert und damit den Raum kontaminiert habe, was ja in Kliniken nicht so gerne gesehen wird, und bringt so immerhin ein bisschen Licht ins Dunkel.

Die Bildgebung selbst verläuft dann verhältnismäßig ereignisarm. Dennoch ist mein Nervenkostüm für diesen Tag derart zerrüttet, dass ich mich dringend mit dem Kauf einer supercoolen Boombox belohnen muss. Eine weise Entscheidung, danach geht es mir deutlich besser. Ich beschalle die Wohnung mit meinen Lieblingsplaylists, und Hotti und Lotti sind blass vor Neid.

Wunderkrebs oder: Krebs ist ein Arschloch

Drecksack auf ein Uhr

Drecksack auf ein Uhr

Da räumst Du jahrelang Dein Leben auf, befreist Dich aus widrigen Umständen, toxischen Beziehungen, von verschiedenen toten Pferden und nicht zuletzt vom Todesstern, ziehst entzückende Energiebällchen auf, bis sie endlich so groß sind, dass das Zusammenleben mit ihnen tatsächlich richtig Spaß macht, angelst Dir den Chéri Deiner Träume sowie den coolsten Job der Welt und hast es endlich so richtig, richtig schön – und dann – zack! – hast Du einen fetten fiesen Knoten in der linken Brust auf ein Uhr. Das Leben ist mal wieder eine Bitch.

„Schreiben Sie!“

Gespürt habe ich das Ding erstmals vor den Sommerferien bei Dehnübungen (Yoga kann Leben retten), am Ende der Ferien ist klar: Ich habe Brustkrebs, ein sogenanntes „Mammakarzinom“, welch Ironie. So werde ich vorstellig bei Professor Huhn am Lingendinger Brustzentrum, der mir nicht nur die Basics meines neuen Lebens in Absurdistan vermittelt, sondern mir auch tief in die Augen schaut und rät: „Schreiben Sie! Sie sehen so aus, als könnte Ihnen das helfen.“ Wie recht er hat! So habe ich auf Anraten meines Arztes beschlossen, Wunderbra wieder einmal zu reanimieren, unter der Rubrik „Wunderkrebs“ über dieses neue Universum zu berichten und meine werten Mitmenschen auf diese Weise zum einen auf dem Laufenden zu halten und zum anderen nach Möglichkeit zu unterhalten.

Wer noch nie Krebs hatte, weiß ja gar nicht, in welcher Maschinerie man sich plötzlich wiederfindet. Eben noch ein entspanntes Leben – und schwupps, hängst Du im MRT, CT, in der Nuklearmedizin und schließlich an der Chemo-Infusion. Da ich das alles vorher ebenso wenig kannte wie die meisten von Euch, werde ich hier einen aufklärerischen Ansatz verfolgen und Euch nach und nach mitnehmen in die Welt der onkologischen Abenteuer.

Ich und mein Port

Ich beginne mit meinem aktuellen Achterbahn-Mindsetting. Als ich erfahre, dass der Tumor groß, bösartig und schnellwachsend ist und dass ich daher erst eine monatelange Chemotherapie, dann eine OP und dann eine Bestrahlung bekommen werde, verbringe ich zunächst einige Tage in ungläubiger Schockstarre. Das kann nicht sein, das ist einfach zu absurd, DAS KANN EINFACH NICHT SEIN. Recht schnell bricht sich allerdings unbändiger Zorn Bahn – was, bitte, soll die Sch…? What the fuck??? Ich empfinde es – nach wie vor – als bodenlose Unverschämtheit, mir dermaßen an den echt gut rollenden Karren zu fahren. Ich fluche wie ein Fuhrknecht und stelle mir den Scheißknoten als Sandsack vor, auf den ich eindresche, als gebe es kein Morgen. Diese blöde Drecksau. Ich würge ihn, ich beschimpfe ihn und mehrmals täglich drehe ich ihm den Hals herum.

Was mir bei dieser Imaginationsarbeit helfend zur Seite steht, ist mein nagelneues Premium-Portsystem: ein Venenkatheter, der mir implantiert wurde und stark an einen Enterprise-Kommunikator erinnert („Computer!“). In dieses Ding unter meinem rechten Schlüsselbein wird jetzt, um meine „wunderschönen Venen“ (O-Ton Chirurgin) zu schonen, bei jeder Chemo-Runde die Infusion angeschlossen. Das bedeutet, dass der Good Guy rechts (Port) als mein buchstäblich leibeigener Cop jetzt regelmäßig den Bad Guy links auf ein Uhr (Tumor) mit fiesen Zytostatika beschießen wird, immer auf die zwölf. Gemeinsam werden der Port-Cop und ich dem miesen Drecksack den Garaus machen, aber sowas von. Der Tumor ist vielleicht aggressiv, der Port und ich sind aggressiver – nimm das, Schurke!

Am Abend vor der ersten Chemo geht es wieder abwärts in der Achterbahn und ich liege weinend in Chéris Armen und jammere, dass sich das anfühle, als gehe man zur eigenen Hinrichtung. Chéri tröstet: „Na ja, es sind ja viele kleine Hinrichtungen.“ Das stimmt auch wieder. Und als Horny Tawny mich später noch scharfsinnigerweise darauf hinweist, dass ja schließlich nicht ich, sondern der Dreckskrebs hingerichtet werde, bin ich ausgesöhnt und kann es schier nicht mehr erwarten.

To be continued!

Baron 5000 oder Die Suche nach Kohärenz

Wir alle kennen Hits wie Anneliese Braun oder Agathe Bauer, Axel Hacke hat mit seinem Weißen Neger Wumbaba und dessen Fortsetzungen gleich mehrere Bücher zum Thema verfasst. Hinter diesem Phänomen des Sich-Verhörens steckt nichts weniger als die unermüdliche Suche nach Kohärenz, das menschliche Bedürfnis nach Zusammenhang, Logik und Struktur. Wo wir etwas nicht verstehen, verleihen wir den Dingen selbst einen Sinn, und was nicht passt, wird passend gemacht.

Auch Lotti zeigte sich diesbezüglich in den letzten Jahren mehr als kreativ. So aß sie im zarten Alter von drei Jahren Mamarinen und Papasilie und schaute wahnsinnig gerne Dschungelbert (der Junge, der von Wölfen großgezogen wurde). An Silvester wollte sie Blech gießen, der zweite Heilige König nach Caspar hieß folgerichtig Seppl, und vorm Spiegel zog sie sich einen Seitenschädel. Leonardo der Winzling hatte nach Lottis Auffassung die Mona Lisa gemalt, und im Ferienlager mit christlichem Hintergrund wurde im Jahr der Fußball-Weltmeisterschaft 2014 die Geschichte von Jakob und Özil vorgelesen. Als sie sich einmal sehr über jemanden ärgerte, drohte sie: „Denen werde ich mal zeigen, wo die Wurst steht!!!“ All das verstand ich auf Anhieb. Nur als sie eines Tages hartnäckig von Baron 5000 und dessen Abenteuern in einer Zeichentrickserie sprach, stand ich recht lange auf dem Schlauch. Nachdem die Rede jedoch auf Lügen und Kanonenkugeln kam, konnte ich erleichtert lösen: Münchhausen!

Erniedrigte Zinsen und Transenkurse

Doch auch Lotti wird älter. Mittlerweile trinkt sie wahlweise Balthasar- oder Baldachintee und nimmt als Vesper gerne Ruckizucki (Chicorée) mit in die Schule. Mit großem Interesse verfolgt sie die Radionachrichten („Mama, die Weltbank hat die Zinsen erniedrigt!“), demnächst möchte sie unbedingt Die Tribüne von Panem sehen. In der baden-württembergischen Landeshauptstadt sind wir neulich die Weintraube hinuntergefahren, und an Fantas Hochzeit mit Herzog Ullrich durfte sie „bis morgens um zwei Rambo tanzen“.

Dass die Suche nach Kohärenz wohl niemals endet, belegen auch folgende Beispiele aus dem Bekanntenkreis. Bei einem Kaffeeklatsch bei Fanta berichte ich vom Besuch einer Vernissage, woraufhin unsere gemeinsame Freundin Amor interessiert fragt, was denn eine „Fernmassage“ sei. Und als Chéri und ich Geschichten von unserem Tanzkurs zum Besten geben, fragt eine der Ammertanten mit hochgezogener Augenbraue: „Was macht Ihr? Einen Transenkurs?“ Wir werden alle nicht jünger.

The Power of Less

Behalte, was dich glücklich macht!- Übrigens: Hotti trägt jetzt auch kurz (links im Bild)

Ferien! Nach einem bewegten Jahr (wir berichteten noch nicht) sehe ich freudig ein paar entspannten Tagen zwischen Nordmanntanne und den Heiligen Drei Königen entgegen, in denen ich mich – Gipfel des Hedonismus – ein kleines bisschen um mich selbst drehen kann, am Ende gar mit einem Buch auf der Couch. Wenn Du Gott zum Lachen bringen willst, mache einen Plan.

Weniger ist mehr

Einen Tag nach Weihnachten hält Hotti den Zeitpunkt für gekommen, den Gutschein für ihre Zimmerrenovierung (Streichen und neuer Teppich), den sie zum 15. Geburtstag bekommen hat, einzulösen. Sie beginnt mit Ausmisten, kann sich aber aufgrund ihrer Lebensphase zwischen den Welten nicht von liebgewonnener Materie trennen: Was tun mit den ersten selbstgenähten Herzchenkissen, der gemeinsam auf dem Flohmarkt erworbenen Sahne-Muh-Muh-Spardose in Milchkannenform oder der Lieblingsjeans, in die die heranwachsenden Kurven beim besten Willen nicht mehr reinpassen? Als gute und nicht ganz uneigennützige Mutter gebe ich dem ratlosen Teenager einen Artikel über Minimalismus – Drei Methoden für Einsteiger zu lesen, nicht zuletzt in der Hoffnung, dass erstens jede Menge Kinderkruscht vergangener Tage endlich unsere Wohnung verlässt und dass ich durch die Selbstbeschäftigung des Kindes zweitens ein paar Stunden Zeit für mich, das Buch und die Couch rausschinde.

Hot or not?

Hotti bedankt sich artig und schwirrt ab. Da steht Lotti auf der Matte, die, wie üblich in den Ferien, in einem Loch aus Langeweile und Strukturlosigkeit versinkt und fragt, was sie „ma‘ machen“ kann. Da ich keine Lust auf Brettspiele habe, antworte ich ebenso lächelnd wie berechnend: „Liebes Kind, hier, lies diesen großartigen Artikel über Minimalismus, Hotti liest den auch gerade, das schadet Euch gar nichts!“ Kurz danach geht es rund: Hotti und Lotti schleppen unermüdlich Berge von Spielzeug, Klamotten, Büchern, Bastelperlen und Müll aus ihren Zimmern, die sie, in Ermangelung von Kisten, im Flur, in der Küche und schließlich in meiner Acht-Quadratmeter-Residenz abladen. Sie übertrumpfen sich gegenseitig, wer besser loslassen kann, dazwischen rufen sie euphorisch Sätze wie „BOAH KRASS, was man alles nicht braucht!“ und „EY, ich behalt nur noch, was mich ECHT GLÜCKLICH macht!“ Während Lotti mir dabei alle paar Minuten Sachen vor die Nase hält, die eine Entscheidung verlangen – Hot or not? Gehen oder bleiben? – schaufelt die große Schwester alles, was sie ECHT GLÜCKLICH macht, rüber in Lottis Zimmer, um Platz zu schaffen für die Renovierung und fließende Energie. Genau so geht das die nächsten Tage weiter. Kisten gibt es immer noch keine („EY, ich geh‘ doch nicht RAUS!“), alles fliegt herum, unsere Wohnung gleicht einer Messie-Bude vom Feinsten, Hotti und Lotti hausen, schlafen und zanken nun gemeinsam in Lottis Chaoszimmer, an Hedonismus ist nicht zu denken. Immerhin hilft der Hotti-Lotti-Papa (HLP) tatkräftig auf der Baustelle und baut das Hochbett ab und um.

Rome wasn’t built in a day

Beim Streichen des künftigen Feng-Shui-Tempels bekommen Hotti, Lotti und ich uns vollends in die Haare, und als wir den Teppich rausreißen, prangt dort, wo der scheinselbstständige Teenager gerne seine nassen Handtücher auf den Boden zu werfen pflegt (Hotti: „EY, das hab‘ ich schon voll lang nich‘ mehr gemacht!“), ein nicht unbeachtlicher Schimmelfleck. Da Hotti nun erst mal auf eine Freizeit fahren und der Schimmel ohnehin tagelang besprüht werden muss, kommt es zum Baustellenstopp. Unsere Wohnung gleicht nun einer Messie-Bude vom Feinsten mit Chlorgeruch, Buch und Couch habe ich längst abgeschrieben, aber wie sagt der Buddhismus unter anderem? Wenn Du es eilig hast, geh langsam. Gut Ding will eben Weile haben, und Rom wurde auch nicht an einem Tag gebaut.

Die erste Schulwoche ist nun vorbei und Ansätze von zeitlicher und räumlicher Struktur kehren allmählich zurück. In unserer Messie-Bude stinkt es zwar immer noch nach Hallenbad, und Hotti schläft nach wie vor in Lottis Zimmer, wo sich Szenen wie im Tatort abspielen, aber die Teenie-Baustelle verzeichnet mittlerweile deutliche Fortschritte: Der HLP hat Laminat verlegt (aus hygienischen Gründen haben wir uns gegen Teppich entschieden), und er sagt, dass „das alles in zwei, drei Tagen fertig“ sei. Genau. Stuttgart 21 sowie der Berliner Flughafen sind schließlich auch kurz vor der Vollendung, und die Erde ist eine Scheibe.

Compagnia Cocolores: „Amore, Amore“

Die wunderbare Theatergruppe Compagnia Cocolores will in diesem Jahr wieder mit ihrem Theaterwagen über die Schwäbische Alb ziehen – allein: Es fehlt das Geld. Grund genug für die Wunderbra-Redaktion, auf diesem Portal ein bisschen Werbung zu machen für eines ihrer Lieblingsprojekte!

Die Theatergruppe Compagnia Cocolores besteht seit 2015 und setzt sich generationsübergreifend aus professionellen Schauspielern und Laiendarstellern sowie aus Land- und Stadtbewohnern zusammen. Mit am Start sind unter anderem, Hotti, Lotti, Fanta, Mulle, Rulle, Wulle, Herzog Ullrich und Uwäh. Die bunte kleine Theaterfamilie mit Spielern im Alter von 7 bis 60 Jahren zieht mit ihrem Theaterwagen über die Schwäbische Alb und spielte in den letzten zwei Jahren das Theaterstück „Oh Fortuna“ im Stile der italienischen Commedia dell’arte (wir berichteten). Nach diesem Erstlingserfolg soll es nun eine Fortsetzung mit dem Stück „Amore, Amore“ geben. Es fehlt allerdings noch das nötige Geld, daher versuchen sie es jetzt als Crowdfunding-Projekt. Daher bitte teilen, spenden und im Sommer auf die Alb kommen – Ihr werdet reich belohnt!

Compagnia Cocolores "Amore, Amore" from Eberhard Schillinger.

Wir alle danken im Voraus!

Zirkusmutti

ZirkusmuttiVier alle haben ein neues Hobby: den Lingendinger Kinder- und Jugendzirkus Cannelloni, der an zwei Wochenenden im Frühjahr mit seinem Programm das Publikum beglückt. Glanz und Glamour bleiben dort per definitionem zwar nur den Heranwachsenden in der Manege vorbehalten. Aber auch die Eltern, Geschwister und sonstigen Angehörigen mit zu viel Zeit und Enthusiasmus dürfen sich jenseits von Ruhm und Rampenlicht nach Strich und Faden selbst verwirklichen. Während Hotti also am Trapez baumelt, Flugrollen macht und als Piratin mit Pois herumfuchtelt, entfalten Chéri und ich uns unter anderem am Kuchen- und Würstchenstand. Da Lotti noch zu jung für die Manege ist, aber bereits mit den Hufen scharrt, macht sie derweil mit anderen Geschwisterkindern in der Warteschleife Karriere im Popcornverkauf.

Auch ansonsten bietet der Zirkus unzählige Betätigungsfelder und Gewerke, bei denen sich die Familien zu ungeahnten Höchstleistungen aufschwingen können. So glänzen manche Eltern beim Frittieren von Langos, andere entfalten sich beim Lose-, Getränke- oder Kartenvorverkauf oder entdecken ihre Leidenschaft für das Auf- und Zuziehen der Theatervorhänge während der Vorstellungen. Wieder andere entpuppen sich als passionierte TontechnikerInnen, MaskenbildnerInnen, Sicherheitsbeauftragte oder Spendendosenbastler. Eine Großgruppe brilliert bei der Artistenverpflegung, ein anderes Team poppt Popcorn bis zum Exzess, und das Zirkusorchester, selbstredend bestehend aus Eltern, gibt ohnehin immer das Letzte. Dass die Zirkus-Community eine Zeitung herausgibt, die Requisite bastelt und das tonnenschwere Zirkuszelt selbst auf- und abbaut, versteht sich von selbst. Eine Zirkusmutter bringt es folgendermaßen auf den Punkt: „Du verabschiedest dich im Februar von deinen Freunden und hoffst, dass sie im Juni noch da sind.“ So ähnlich würde ich das auch unterschreiben: Wer uns im Frühjahr sehen will, kommt auf den Zirkusacker.

Nach zwei Aufführungswochenenden mit Blut, Schweiß, Tränen, Matsch, Erkältung und Adrenalin sind wir tot, aber glücklich. Ich habe keine Ahnung, wie die anderen Zirkusfamilien die Pfingstferien verbringen – wir schlafen.

P.S.: Hier eine sehr nette kleine Reportage der Lingendinger Studierenden Anna Schaden, Katrin Gildner & Sebastian Gabler (Klarnamen-Alarm!!!) über den Zirkus Cannelloni und sein diesjähriges Programm „Schrottkompott“:

New Cat in Town

Miezmiezmiez!!!

Miezmiezmiez!!!

Wir haben Nachwuchs: Putze und Messie, zwei entzückende adoleszente Katzendamen, die wir bereits im letzten Jahr bei Chéri einquartierten und nun, da letzterer just von seinem Landwohnsitz in unseren Kiez nach Lingendingen gewechselt ist (Wunderbra wird berichten), bei Hotti, Lotti und mir hausen. Die Kinderschar war im Vorfeld schon ganz aufgeregt und malte sich aus, wie schön das würde, wenn die Miezen endlich bei uns wären und wie süüß und wie niiiedlich, und man könnte streicheln und füttern und herumtragen, und sie würden schnurren und maunzen und schnurren, und nachts würde man die Kinderzimmertüren auflassen und die Miezen würden zu ihren Füßen oder auf ihren Bäuchen nächtigen, blühende Haustierlandschaften.

Draußen vor der Tür

Bei ihrer realen Ankunft stellen wir Putze und Messie in Lottis Zimmer und umzingeln zu viert ganz entspannt den Korb, aus dem beide Katzen mit weit aufgerissenen Augen herausstarren. Als zehn Minuten später Messie in Zeitlupe eine Pfote aus dem Korb setzt, stürzen sich Hotti und Lotti mit beruhigenden Worten auf sie: „HAALLLLOOOO MEEESSSSIIIIIIEEE!!! KOMM HEEER, KUCK MAL, FANG DIE MAUS!!!“ Sie wollen nur spielen. Putze schleicht zügig und geduckt in die hinterste Ecke unter Lottis Bett und glotzt für die nächsten Stunden mit Kulleraugen zu uns, die wir abwechselnd auf allen Vieren vorm Bett liegen und sie herauszulocken versuchen. Schließlich kommt das erste Fressie, das erste Pipi, sie schnurren und schmusen und vier alle sind mächtig stolz auf unsere lieben Kleinen, wie überaus gefasst sie den Transfer vom Land in die Stadt genommen haben.

Nach der ersten Nacht allerdings stehen Putze und Messie vor verschlossenen Kinderzimmertüren. Lotti berichtet am Morgen mit tiefen Ringen unter den Augen, dass die Katzen in der Nacht aus dem Stand ihr Hochbett angesprungen hätten (glücklicherweise schläft sie unten), nur um wieder herunterzuhopsen und das Ganze zu wiederholen. Messie kämpfte mit dem Teppich und kaute ihn durch, Putze wiederum wurde gesehen, wie sie ihr Stoffkörbchen durchs halbe Zimmer schob. Hotti sieht auch nicht viel besser aus und ergänzt, dass Messie ihren Engelsflügel (aus Vogelfedern) an der Wand traktiert hätte, während Putze erst ihr Hochbett erklomm und dann jämmerlich maunzte, weil sie angeblich nicht mehr herunter konnte.

Miezmiezmiez!!!

Und auch sonst akklimatisieren sich die beiden Damen recht schnell. Sie inhalieren tütenweise Nass- und Trockenfutter, spielen Fußball mit Teebeutelpapieren, schlafen auf dem Küchentisch, wuseln zwischen Füßen herum, und wenn ich das Katzenklo saubermache, schauen sie zu, um, wenn ich fertig bin, noch in meinem Beisein direkt erneut ihr Geschäft zu verrichten. Außerdem sitzen sie auf Fensterbänken und beobachten vorbeispazierende Hunde, hauen ab ins Treppenhaus oder latschen über die Küchenzeile. Was will man auch machen den ganzen Tag, wenn einen diese Irren plötzlich einsperren?

Dann kommt der große Tag: Putze und Messie dürfen das erste Mal das Haus verlassen und ihr neues Revier erkunden. Zu diesem Zweck setzen Hotti, Lotti und ich sie ans Badfenster, von dem aus es auf das Schuppendach geht. Messie steigt vorsichtig nach draußen, Putze drückt hinterher, und dann bleiben beide versteinert hocken, den Schwanz sorgsam um die Vorderpfoten gelegt. Dann Pause. Nichts, nur zuckende Ohrmuskulatur. Etwa drei Minuten später rasen sie wie der geölte Blitz in Lottis Zimmer, unters Bett, und erholen sich von ihrem wilden Abenteuer. Da habe ich jetzt schon ein bisschen mehr erwartet. Also locke sie noch einmal hervor und schiebe sie durch Lottis Fenster nach draußen. Und dann legt es bei ihnen einen Schalter um und weg sind sie. Früher fand ich es immer besonders entwürdigend, wenn ich Leute mit Fressnäpfen klappernd an Fenstern und Türen habe stehen sehen, wie sie unsägliche Namen in die Straße riefen und ihre entlaufenen Katzen mit allen möglichen dämlichen Geräuschen ins traute Heim zurückzulocken versuchten. Diese Blöße würde ich mir niemals geben. Als Chéri nach Hause kommt und die Lage überreißt, holt er Schüsselchen und Löffelchen aus der Küche, stellt sich auf den Balkon, klappert und ruft im Chor mit mir: „PUUUTZEEE! MEEESSSIIIIIIEE!! KO-HOMMT, FREEESSSIIIIIE!!! MIEZMIEZMIEZ!!!“ Und tatsächlich: Sie kommen von sonst woher angaloppiert und rasen vor unseren Augen auf die Bäume im Garten. Sie rasen wieder runter und verschanzen sich unter Autos. So rutschen Chéri und ich auf Knien vor dem Auto der Nachbarin herum und klappern und locken. Schließlich gelingt es uns, beide Damen einzutüten und sicher in den Katzenknast zurückzubefördern. Sag niemals nie.

Wenn Du nicht weißt, wovon Du redest …

DSC_0333Wohnung Balkönle.jpgWir kennen wahrscheinlich alle irgendwoher einen dieser eigenartigen Menschen, denen dauernd irgendetwas fehlt. Sie haben eine breite Palette an Beschwerden zu bieten: Da wären zunächst verschiedene Sorten von Schmerzen, die überall und auch manchmal nirgendwo sind. Dann sind diese Leute wegen jeder Kleinigkeit gleich am Rand ihrer Kapazität und sowohl körperlich als auch mental schnell von der Rolle, sobald es mal ein bisschen schwierig oder turbulent wird. Alles ist ihnen zu laut, zu schnell, zu gluten, zu welt und zu nah. Sie sagen dann Ach, das wird mir jetzt zuviel und müssen sich für die nächsten Stunden in ihre Höhle zurückziehen. Echt praktisch! Sie können nicht schlafen, sich schlecht konzentrieren und müssen ständig pinkeln, wenn ihnen nicht auch noch gerade übel ist. Zum Essen will man sie nicht wirklich einladen, weil man ja weiß, dass sie eigentlich nix vertragen, was irgendwie Spaß macht. Kein Alkohol, keine Milchprodukte, kein Weizen, keine Tomaten, kein Dies und kein Das und am Ende bleiben nur Dinkel und Alfalfa-Sprossen übrig. Und wer will schon ein Tiramisu mit Dinkelsahne, das dann doch schmeckt wie eine Scheibe Brot? Zu den Alfalfa-Sprossen fällt mir schon garnix ein – außer ein Alfalfa-Smoothie, der sich sowohl optisch als auch geschmacklich benimmt wie ein geschleuderter Frosch.

Das Diagnose-Potpourri bietet viele tolle Wörter: vegetative Dystonie, CFS, funktionelle Whatever-Beschwerden (funktionell soll einfach nur heißen, wir finden halt nix), Burn-Out, Fibromyalgie, alle möglichen Syndrome irgendwelcher Körperteile und als von Ärzten heißgeliebte Gallionsfigur schwebt über allem die DEPRESSION. Irgendwie ist alles, was nicht funktioniert, letztlich Depression. Und falls das wesentliche Symptom einer Depression, nämlich die niedergedrückte Stimmungslage zufällig nicht vorhanden ist, dann ist es eben eine atypische oder maskierte Depression.

Aber nicht nur die Schulmedizin hat viele schöne Etiketten parat. Sind wir doch mal ganz ehrlich: Wir wissen doch auch eine ganze Menge über solche Leute. Man beobachtet sie und scannt nach Ursachen für dieses ganze Gedöns. Und wird fündig. Es gibt tatsächlich Dinge, denen XY aus dem Weg geht – WOW! Und da ist auch etwas in XYs Leben, dem er sich eventuell noch nicht gestellt hat. Das sollte XY schnell mal tun – noch WOWER! Falls XY sich seinen seelischen Altlasten nicht effektiv genug stellt, dann scheint er sich ja wohl für seine Beschwerden entschieden zu haben – am WOWESTEN! Schließlich wissen wir ja alle, wie das so ist mit dem sekundären Krankheitsgewinn. Irgendwann macht es sich XY am Ende in seinen Beschwerden bequem wie in einem warmen Nest? Das muss verhindert werden!! Natürlich soll der arme XY erstmal schnell akzeptieren, dass gerade etwas nicht stimmt und er nicht richtig funktioniert. Das ist ja nicht so schwer. Also hurtig akzeptieren und dann aber husch husch wieder fleißig anstrengen, um trotz der vielen Einschränkungen doch beruflich durchzustarten oder irgendetwas anderes Großes zu reißen. Und dann gibt’s auch viel Anerkennung für den guten XY, weil er sich nicht entmutigen hat lassen und sich trotz Handicap durchgebissen hat.

Die anderen XYs, die gerade nicht durchstarten, weil sie ein paar Schwierigkeiten in der Akzeptanz-Phase haben, müssen es leider weiter ertragen, dass andere besser als sie wissen, wo ihr Hase im Pfeffer liegt.

Vielleicht halten mal alle, die nicht wissen wollen, wovon sie eigentlich reden, einfach den Mund?

 

 

 

 

Dolce far niente

Pamela und David im Loveboat.

Pamela und David im Loveboat.

Nach unserer Tournee durchs Klabautertal geht es, wie bereits im Vorjahr, ins Land, wo die Zitronen blühn, genauer: in die Welthauptstadt der Haselnuss (im Ernst: Capitale della Nocciola al centro del Mondo).[1] Dort angekommen, machen alle fast genau da weiter, wo sie letztes Jahr aufgehört haben: Die Kinderschar vergnügt sich wahlweise an Tischkicker oder Pool, die Erwachsenen fallen direkt in irgendwelche Liegestühle und die DorfbewohnerInnen veranstalten uns zu Ehren erneut ihr nettes kleines Fest, um die schönste und größte Nocciola zu küren.

Salami-Sorten: Esel, Wildschwein, Trüffel, Bauer

In schnuckeligen alten Gässchen erwerben wir Haselnusseis, Haselnusscreme sowie diverse Sorten Salami („Esel“, „Wildschwein“, „Trüffel“, „Bauer“) und Frau Hopp spielt, wie auch im vergangenen Jahr, mit dem Gedanken, eine total verfallene, aber unaussprechlich romantische Ruine zu erwerben, um dort eine Urlaubskommune zu begründen. Neu ist ihre durch aktuelle Lektüre hervorgerufene Geschäftsidee, dort auch gleich eine Trafik einzurichten. Girls gotta eat. Zudem gibt es dieses Jahr noch eine Runde Kettenkarussell für Hotti, Lotti, Fräulein Picasso, Chéri und Frau Hopp, der restlichen Reisegruppe ist von zu viel Gelati und Salami bereits leicht schlecht.

Die verbleibende Zeit verbringen wir mit ebenso anspruchsvollen wie umfassenden Tätigkeiten wie in Liegestühlen herumlungern, lesen, Eis essen, Espresso trinken, Städtchen angucken und im Pool planschen, was heuer eine besondere Attraktion mit sich bringt: ein Schlauchboot, das gute FreundInnen aus dem Gammeltal Chéri und mir dieses Jahr zu unserem 88. Wiegenfeste verehrt haben. So schippern wir gemütlich durch die Woche, und als uns an Tag 5 der Sinn nach einer kleinen Variation steht, brettern wir ans Meer, um dort die Baywatch-Nummer zu machen. Und auch diesbezüglich gibt es eine positive qualitative Veränderung zu vermelden: Klebten Hotti und Lotti letztes Jahr beim „Schwimmen“ noch wie kreischendes Senkblei an ihrer Mutter, ziehen wir nun gesittet und wohlgeordnet unsere Runden durchs Mittelmeer. Vacanze é possibile!

[1] Damit wäre auch der nervenzerfetzende Cliffhanger unserer netten kleinen Geschichte über unseren ersten Patchworkurlaub für alle die aufgelöst, die ein schlafloses Jahr hatten („Stellt sich nur noch eine Frage: Wohin geht es nächstes Jahr?“). [zurück]