Neighbours

Ein Sondereinsatzkommando stürmt die Wohnung und reißt die Anlage auf. Bild: Stefán, Lizenz: cc

Heute ist Samstag. Ich habe einen perfiden Plan ausgetüftelt, wie ich Hotti und Lotti garantiert zum längeren Ausschlafen als 6 Uhr 30 bewegen kann. (Eins der unerklärlichen Kindernaturgesetze besteht darin, dass man sie unter der Woche um 6 Uhr 30 nicht aus dem Bett bekommt, während sie am Wochenende um exakt dieselbe Uhrzeit topfit durch die Wohnung springen.) Gestern Abend also ließ ich sie extra lange herumtoben, bis sie mich anflehten sie endlich ins Bett zu bringen. Ich ließ die Rollläden im Kinderzimmer herunter, um ewige Nacht vorzutäuschen, und das Flurlicht brennen, damit niemand wegen totaler Finsternis und etwaiger Monster, Räuber, Vogelspinnen oder Krokodile, die sich gerne in selbiger herumtreiben, in Panik ausbricht. Und um Mitternacht zerrte ich die jammernde Lotti aus ihrem Bett und aufs Klo, nur damit sie nicht nachts um drei Pipi muss. Danach legte ich mich mit einem zufriedenen Lächeln auf den Lippen und der Gewissheit, alles für einen wohlverdienten ausgedehnten Schlaf ohne Unterbrechungen gesorgt zu haben, zur Ruhe.

Schlafstörungen, Liebeskummer oder Dachschaden?
Um sechs Uhr morgens jagt ein Sondereinsatzkommando mit schweren Maschinengewehren die Treppen hoch und tritt unsere Wohnungstür ein. Sie spielen RELAX von Frankie goes to Hollywood im Wohnzimmer und reißen die Stereoanlage auf. Ich sitze senkrecht in meinem Bett. Mein neuer Nachbar! Er arbeitet nachts und schläft dafür nicht tags, offensichtlich auch am Wochenende. Das Problem: Unsere Schlafzimmer liegen nebeneinander und sind quasi nur durch eine Papierwand getrennt. Durch diese dröhnt jetzt Nineteen von Paul Hardcastle. Ein wilder Ritt durch die 80er beginnt, allerdings werden die Titel nur angespielt. Ich liege auf dem Rücken, die Arme unter dem Kopf verschränkt, und rate die Titel. Zwanzig Sekunden Miami Vice Theme folgen vier verschiedene Metalbands (erkenne ich nicht), danach First Time First Love, schließlich bleibt er hängen bei I Need A Hero. Den brauche ich auch und der geht dann rüber und lässt meinen Nachbarn seine eigene Anlage fressen. Ey, was hat der genommen?! Hat er Schlafstörungen, Liebeskummer oder einfach einen Knall?? Der hat die ganze Nacht gearbeitet, der muss doch müde sein, warum schläft der nicht?

Um sieben Uhr: Plötzliche Stille. Entweder er ist eingeschlafen oder zusammengebrochen. Ich bin hellwach. Ich stehe auf und gehe duschen. Hotti und Lotti schlafen friedlich. Einkaufszettel für Drogerie: Ohropax für mich, eine Zehnerpackung Hopfen-Baldrian-Dragees für meinen Nachbarn.

Wie war die Woche, Liebling?

Es ist zwar erst Donnerstag, innerlich habe ich diese Woche allerdings bereits abgehakt und würde gerne zur nächsten übergehen. Zeit also für einen kleinen Rück- und Ausblick.

Montag: Tschüss Auto
Die Woche beginnt mit einer qualmenden und nach Schwefel stinkenden Autobatterie (vier Monate alt) und das einen Tag, bevor ich mit meinen werten KollegInnen Frau Dr. Sprite und Mr. Sonic zu einem Workshop im Siebenzwergegebirge fahren soll. Leider kann mir keiner der vier Autohelden, die ich zur Rettung von R2D2 (mein Auto, 17 Jahre alt) bemühe, spontan wirklich weiterhelfen. Die Ferndiagnosen reichen von Kurzschluss über Marder bis hin zum Lichtmaschinenregler. Mein Haus- und Hofmechaniker ist leider für die nächsten zehn Tage verhindert, also gibt mir eine Freundin die Nummer ihres Haus- und Hofmechanikers. Wie sich herausstellt, handelt es sich dabei um denselben.

Dienstag: Ein Käfig voller Narren
Wir fahren also mit einem anderen Auto zum Workshop ins Siebenzwergegebirge. Offizielles Thema ist „Laubsägearbeiten – früher und heute“, aber darum geht es nicht. Man fragt sich, warum man sich inhaltlich vorbereitet hat und nicht psychisch und kampftechnisch. Der Raum ist voll von Profilneurotikern, die den Mund nicht zubekommen, das Seminar eine Plattform für lauter kleine Egomanen. Ich komme mir vor wie zu Hause: ICH!! Nein, ICH!! IIIIICH!!!!!! Willichnicht!!! Willnichtwillnichtwillnicht!!!!!!! Dagegendagegendagegen!!! Du bist sooo blöööd!! Ich mach nicht mehr mit!!!! 55jährige Männer, die sich aufführen wie Dreijährige, das ist nicht schön.

Mein persönlicher Tiefpunkt ist erreicht, als der Seminarleiter mich beiseite nimmt und fragt, ob diese Augen lügen könnten. Erschrocken drehe ich mich um, möglicherweise steht jemand neben mir, den ich übersehen habe, ich sehe aber niemanden, er muss meine Augen meinen, aber wieso sollten diese lügen können, mir ist der Sinn seiner Worte überhaupt nicht klar, also stammele ich eine Antwort, die irgendwo zwischen „Auf gar keinen Fall!“ und „Gar keine Frage!“ angesiedelt ist, und flüchte mich zu meinen KollegInnen in die Raucherecke (nachträglicher Vorsatz für 2010: Dringend wieder mit Rauchen anfangen!!!). Nach einem Tag unter hochgradig psychisch Auffälligen möchte ich nur noch schlagen.

Mittwoch: Tschüss Computer
Mein Laptop verabschiedet sich. Immer, wenn er sich anhört wie ein Staubsauger, weiß ich, er raucht gleich ab, spätestens in zwei Minuten. Ich hasse diesen Sound. Organisiere Auto, um am nächsten Tag zur Arbeit zu fahren.

Donnerstag: Tschüss Gesundheit
Habe mit Fanta ein hochdiffiziles Autoarrangement ausgetüftelt inklusive Kinderbetreuung und -logistik, um entspannt (HA!) arbeiten zu können. Nach zehn Minuten auf der B 12784563 stelle ich fest: Ich bin krank. Hatte ich komplett ausgeblendet. Husten, Schnupfen, Halsschmerzen, dröhnende Kopfschmerzen, ich drehe um, fahre heim, lege mich ins Bett und stehe erst wieder auf, als ich Hotti und Lotti von ihren Freundinnen holen muss.

Donnerstagabend: Hallo Außerirdische
Habe fremde Lebensformen in meinem Badezimmer entdeckt. Sie benehmen sich unflätig, grölen lautstark Lieder (klingt nach AC/DC) und haben Klorollen-Rüssel im Gesicht. Es entbrennt ein Machtkampf darum, wer zuerst aufs Klo darf. Sie rüsseln sich gegenseitig weg von der Toilette hin zur Badewanne, schließlich gewinnt das mit dem stärkeren Rüssel. Lese den Extraterrestrianern Schneeweißchen und Rosenrot vor („Ich bin Schneeweißchen!“ „Nein, ICH!“), nicke dabei weg, werde unsanft in die Rippen gestoßen, frage mich, was so schlecht an Rosenrot ist, lese fertig, Stimme verabschiedet sich. Zeit für mich ins Bett zu gehen.

Freitag bis Sonntag: Wünschdirwas
Schlafe durch bis Sonntag. Zwei brave, gekämmte, stille Mädchen bringen mir um 12 Uhr mittags leise eine große Tasse Milchkaffee ans Bett, dazu ein Hörnchen, frisch vom Bäcker, und schleichen auf Zehenspitzen ins Kinderzimmer zurück, um dort ruhig, gesittet und friedlich bis zum Abendessen zu spielen, das selbstverständlich sie anrichten. Ich lese mein Buch fertig (Working Mum, HA! Liest sich wie mein eigenes Tagebuch.), schaue eine DVD nach der anderen und träume vom Sommer.

Me, myself and I

Wie machst du das nur?

Kinder werden ja von morgens bis abends gelobt. Teilweise auch für banale Kleinigkeiten und über den grünen Klee, aber egal, Hauptsache, sie erlangen am Ende ein positives Selbstbild samt gesundem Selbstwert, Stichwort Resilienz. Das ist aber ein schönes Bild! Großartig, wie Du Dir immer die Zähne putzt! Du sitzt auf dem Klo und hast Kacka gemacht? Sensationell! Weiter so! Ist man erwachsen, sieht das Ganze schon anders aus. Keiner klopft einem anerkennend auf die Schulter, wenn man zwischendurch mal im Schneegestöber mit eisstarren Fingern und erstmals (!) die Glühbirne des vorderen rechten Autoscheinwerfers erfolgreich (!!) austauscht, und niemand findet auch nur ein Wort des Lobes, wenn man regelmäßig und fließbandartig sechzig (!!!) Finger- und Fußnägel auf Normalmaß zurückkürzt. Es honoriert auch niemand, dass man seinen Weihnachtsbaum rechtzeitig beim CVJM zur Abholung anmeldet oder das eigene Kind beim Turnkurs – ganz zu schweigen von täglichen Glanzleistungen wie Kochenputzenwascheneinkaufen, Arbeiten, Kinderbespielen, kreativer Selbstverwirklichung und Soziallebenaufrechterhalten.

Wer, wann, wo, wenn nicht ich, jetzt und hier?

Aus diesem Grund halte ich es an dieser Stelle für angemessen, wenn nicht überfällig, eine Lobeshymne auf die Person anzustimmen, die es schon lange verdient hat und ohne die unser überaus harmonisches Familienleben samt reibungslosen Abläufen nicht möglich wäre, nämlich mich:

Hochverehrte und überaus geschätzte aktuelle!

Guten Morgen, Liebling!

Ich finde es grandios, wie du dich auch nach der 2196. kinderbedingten Horrornacht jeden Morgen aus dem Bett quälst, um eben diese Kinder mit einem verzerrten Lächeln im Gesicht zu wecken, ihnen Frühstück zu machen, die Zähne zu putzen und den Turnbeutel hinterherzutragen. Es ist triumphal, wie Du es trotz allmorgendlicher Schlammschlachten in Kinderzimmer, Küche und Bad schaffst, meistens pünktlich auf der Arbeit zu erscheinen und nach einem langen Arbeitstag beim allabendlichen dadaesken Rückwärtsprogramm in Küche, Bad und Kinderzimmer recht häufig die Nerven zu behalten. Ich bin beeindruckt, wie du jeden Morgen zwischen Tür und Angel die Überschrift der Tageszeitung liest, und preise die Demut, mit der du täglich mindestens eine Sorte Müll drei Stockwerke nach unten trägst.

Deine Nudeln mit Pesto sind eine Sensation

Die stoische Disziplin, Ausdauer und Kreativität, mit der du regelmäßig Nahrung beschaffst und zubereitest, suchen ihresgleichen, ebenso wie die Geduld und das Verständnis für das verlässlich einsetzende Kinder-Essen-Genörgel. In diesem Zusammenhang wollte ich dir schon lange sagen, dass deine Nudeln mit Pesto eine Sensation sind. Und ich fand es über die Maßen bewundernswert, wie du neulich die Spielsachen nicht aus dem Fenster geworfen hast, nachdem die Kinder auch der 172. Aufforderung zum Aufräumen nicht nachgekommen sind. Das muss dir erst einmal jemand nachmachen!

Danke auch, dass du in deiner kostbaren Freizeit erneut die Pestizidkeule über Deiner Freundin Fanta geschwungen hast, um auch der letzten Laus den Garaus zu machen. Von dir organisierte Kindergeburtstage sind Erfolgsgeschichten, Deine Weihnachtsplätzchen eine Wucht und dass du seit zwei Jahren die Bastelnachmittage im Kindergarten und Elternstammtische der Schule schwänzt, ist absolut verzeihlich. Den Gipfel der Unglaublichkeit aber erreichst du, wenn du es nach einem Tag, den die Welt nicht braucht, auch noch fertig bringst zwanzig Minuten Hausfrauengymnastik zu absolvieren. Sag: Wie machst du das nur?

Waterloo

Abfahrt ins Nordhaus!

In einer Leistungs-gesellschaft wie der unseren unterliegen gesellschaftliche Festi-vitäten wie Geburtstage, Weihnachten, Ostern und bald vermutlich auch der Buß- und Bettag streng dem Leistungsdiktat und müssen entsprechend erfolgreich und dynamisch, mindestens aber glücklich und harmonisch begangen werden. Das gilt natürlich erst recht für Silvester. Unter einer knackig-krachenden Fete mit 100 gutgelaunten Leuten, einem exklusiven Urlaub in einem exotischen Feriendomizil oder auch einem gediegen-idyllischem Jahreswechsel auf irgendeiner Waldlichtung mit Lagerfeuer und entferntem Feuerwerk am Horizont läuft gar nichts. Wer das nicht auf die Reihe bekommt, ist ein Versager.

Ich habe versagt

Umso mutiger zuzugeben, wenn ein Fest, nennen wir es aus gegebenem Anlass Silvester, so richtig in die Hose geht. Um einem meiner Lieblingsmottos (Jeden Tag eine mutige Tat) auch 2010 die Treue zu halten, beginne ich dieses blütenreine, taufrische und erfolgversprechende neue Jahr mit dem Bekenntnis, dass der hinter mir liegende Jahreswechsel mit Abstand der katastrophalste und erfolgloseste meines bisherigen Silvester-Lebens war. Ein Desaster.

Das kam so: Ich hatte Hotti und Lotti erfolgreich zu ihrem Vater organisiert, um mal wieder ein Silvester richtig abfeiern zu können. Dabei hatte ich leider übersehen, dass sich sämtliche meiner FreundInnen ebenfalls erfolgreich wegorganisiert hatten: zum Hops-Kurs nach Bayern, mit Freunden nach Italien (2x), zur Schwitzhütte nach Buxtehude, mit Schnucki zu Kollegen und der Rest „ganz gemütlich zu Hause mit der Familie“. Super Sache. Macht nichts, denke ich, Du bist groß, Du bist erwachsen, Du bist mutig und zu allem entschlossen, gehst Du eben alleine tanzen. Zur Silvesterparty ins Nordhaus, einer beliebten Kulturstätte mit Tanz und Kneipe. Dort triffst Du vermutlich eh Hinz und Kunz, Abfahrt!

Ein Obdachloser steht vor mir: Coole Frisur!

WEIT gefehlt. Ich treffe weder Hinz noch Kunz, sondern nur 150 20jährige und 20 150jährige inklusive mir. Das Flair einer Abi-Party. Um die Situation zu entemotionalisieren, bemühe ich mein Heilig-Abend-Mantra: Es ist einfach nur Donnerstag (nicht Silvester), und ich will einfach nur tanzen. Und um zwölf werde ich mich, dem Rat meiner weisen Freundin Giannini folgend, auf dem Klo verbarrikadieren und danach weitertanzen.

Doch es kommt anders. Als ich mich um zwölf auf dem Klo verbarrikadieren will, bittet mich die Security freundlich, aber bestimmt in den Hof, sie schlössen jetzt ab, und zwingt mich, mir Horden von blendend gelaunten, glücklichen, knutschenden, sich in den Armen liegenden 20jährigen beim Silvesterfeiern zuzuschauen.

Es kann nur besser werden - oder?

Als ich denke, schlimmer kann es nicht mehr kommen, steht plötzlich ein 150jähriger Obdachloser vor mir und sagt: Coole Frisur! Schlimmer geht immer, auch 2010. Den Todesstoß versetzen mir schließlich drei Mädels eine Stunde später, indem sie mich in der Warteschlange vor dem Klo anstrahlen: Wir müssen gar nicht, gehen Sie ruhig vor! Frohes neues Jahr. Nach diesem Silvester kann es eigentlich nur besser werden – oder?

Surviving Christmas

Weihnachten: Nach dem Spiel ist vor dem Spiel.
Bild: probek, Lizenz: cc

Weihnachten ist ja nichts für Weicheier, sondern vielmehr ein Experiment mit offenem Ausgang. Und man fragt sich, alle Jahre wieder, was in Gottes Namen die Menschen sich bei diesem Fest eigentlich gedacht haben. Möglicherweise haben sie gar nicht gedacht. Möglicherweise ist Weihnachten aber auch nichts anderes als ein kollektives Prämenstruelles Syndrom (PMS): Alle sind reizbar, dünnhäutig, aggressiv oder depressiv, die einen möchten saufen und schlagen, die anderen saufen und heulen, es wiederholt sich zyklisch, und alle hoffen, dass es möglichst schnell vorbei geht. Es ist eine Zeit des Durchdrehens, kein Spaß.

Weihnachten: Erbauung, Tsunami, Gemeinschaft

Da ich dieses Jahr ohnehin nicht in the mood komme (vgl. Advent I-IV/wunderbra), beschließe ich mich emotional auszuklinken und den anderen beim Durchdrehen zuzuschauen. Mein entsprechendes Mantra für den Heiligen Abend: Es ist Donnerstag, und ich verbringe Zeit (egal wie). Dieses Mantra ist es auch, dass mich den 60minütigen Familiengottesdienst mit Krippenspiel überstehen lässt, bei dem Lotti mit einem 60minütigen Zornanfall glänzt, und von dem ich mir ursprünglich 60 Minuten meditative Erholung und Erbauung für die letzte Runde des Abends versprochen hatte. Normalerweise hätte ich vermutlich stinksauer die Kirche verlassen, und das Christkind sämtliche Weihnachtsgeschenke für Lotti wieder mitgenommen. So lehne ich mich entspannt zurück und denke: Es ist Donnerstag, und ich verbringe Zeit (egal wie). Vom Krippenspiel verstehe ich kein Wort, vom Gottesdienst nur die Worte Tsunami, Katastrophe, Gemeinschaft, und das hatte ich schon drei Tage vorher auf Breitwand.

Advent III

schneemann2Was mag wohl der dritte Advent dieser Familie am Rande des Nervenzusammenbruchs beschert haben?, fragt sich die geneigte Leserschaft, sind sie alle noch vor dem Kaffeekränzchen mit Laserschwertern aufeinander losgegangen, so dass nicht nur die Nachbarn zum Beherzten Eingreifen gezwungen waren, sondern neben Polizei und Jugendamt auch gleich der Notarztwagen aufkreuzte, und morgen steht dann alles in der Zeitung:

Adventssonntage nichts für Zartbesaitete: Familie dreht durch

Nichts dergleichen. Idylle pur. Netter Kinderbesuch, gepflegtes Sternchenausschneiden und Schneemännerbasteln, gediegenes Bratäpfelbacken mit Vanillesoße, Weihnachtsmarkt mit Kinderkarussell und Lebkuchenherzen: Schnucki und Bienchen. Bilderbuch. Friede, Freude, Fefferkuchen. Eine andere Welt ist möglich.

Ihr werdet sagen, ich lüge. Stimmt. Ersetzt nett, gepflegt und gediegen mit laut, wild und dreckig, dann wird ein Schuh draus. Immerhin konnte ich mich auf dem Weihnachtsmarkt gegen zwei falsche Weihnachtsmänner mit Spongebob-Gasballons behaupten. Ansonsten: Ein weiteres vollkommen normales Wochenende mit zwei entzückenden kleinen Kindern, die alles wollen und zwar sofort, und einer Mutter, die dazu nicht bereit ist. Ein weiteres Wochenende, an dem man am liebsten alleine frühstücken gehen würde, Hotti ihre kleine Schwester hochkant aus dem Zimmer wirft, Lotti auch den fünfundzwanzigsten Trotzanfall nicht auslässt und beide Kinder das Essen zurück auf den Teller spucken. Die lieben Kleinen. Wir warten mit Hochspannung auf den vierten Advent, wenn es wieder heißt: Gnadenbringende Weihnachtszeit.

lebkuchenherzen2

Die Rückkehr der Jedi-Ritter

Nach einem laangen, ruhigen Wochenende, wir berichteten, und einem laangen, ruhigen Bürotag, nicht erwähnenswert, freue ich mich darauf, dass Hotti und Lotti wieder nach Hause kommen. Strahlend hole ich Lotti bei der Tagesmutter ab, sie versteckt sich. Ich will sie anziehen, sie bockt. Ich will schnell nach Hause, weil Hotti gleich auf der Matte steht, Lotti drückt im Fahrstuhl die Kellertaste.

Bild: <a href='http://www.flickr.com/photos/st3f4n/3463405802/in/set-72157616350171741/'>Stefán</a>, Lizenz: <a href='http://creativecommons.org/licenses/by-nc-sa/2.0/deed.de'>cc</a>

Bild: Stefán, Lizenz: cc

Zu Hause will sie ihre verschlammten Stiefel putzen, falls der Nikolaus noch einmal kommt. Im selben Moment klingelt Hotti Sturm an der Haustür, poltert die Treppe hoch und brüllt Schulinfos durchs Treppenhaus. Im Bad läuft das Wasser, die Schlammstiefel sind klatschnass, alles ist voll Matsch, der Teppich, der Schlafanzug, Lotti. Ich mache Abendessen, die lieben Kleinen sich um die Adventskalender. Mein linkes Augenlid zuckt. Beim Essen skandieren sie Süßis! Süßis!! Süßis!!! Süßis!!!!, wir schachern um jeden Bissen: Jede noch drei Löffel. Beim Nachtisch wird zurückgeschachert: Noch eine Tüte Colafläschchen und zwei Traubenzucker. Mein rechtes Augenlid zuckt. Ich räume ab. Im Bad keift Hotti: Gleich hau ich Dich!! Lotti kreischt: Und ich kneif Dich!!! Mein Kopf tut weh, in meinen Ohren pfeift es, und ich weiß nicht, ob es der Tinnitus ist oder die Kinder. Ich weiß nur eins: They’re back.

die aktuelle

Der zweite Advent: Kampfbacken

Bild: <a href="http://www.flickr.com/photos/st3f4n/4153198053/">Stefán</a>, Lizenz: <a href="http://creativecommons.org/licenses/by-nc-sa/2.0/deed.de">cc</a>

Bild: Stefán, Lizenz: cc

Endlich, mein erstes freies Wochenende seit langem. Hotti und Lotti sind bei ihrem Vater, wie geschickt, denke ich, am Sonntag ist Nikolaus, und ich muss mich um nichts kümmern. Endlich frei, endlich Zeit für mich, endlich Ausschlafen, Kaffee im Bett, Lesen, Stille. Ich schreibe meine alljährliche Weihnachtsliste, kaufe in Ruhe Weihnachtsgeschenke, schlendere entspannt über den Weihnachtsmarkt und betrachte mit einer Mischung aus Mitleid und Schadenfreude Eltern, die von ihren Kindern zum Kauf eines Spongebob-Gasballons gezwungen werden. Heute nicht mein Problem! Ich setze mich ins Café, vertrödele den restlichen Nachmittag, keiner will was von mir, der Himmel auf Erden.

Nach einem gechillten Samstag kommt der Sonntag. Es ist der zweite Advent und obendrein Nikolaus. Super, denke ich, Ruhe, Besinnlichkeit! Ausschlafen, Kaffee im Bett, Lesen… Stille. Nichts. Nichts regt sich. Kein Mamadernikolauswarda!! zu unmenschlichen Zeiten, kein Geschrei wegen gefüllter Stiefel, kein Zank um Apfel, Nuss und Mandelkern. Stille. Niemand stürmt mein Bett mit verschmierten Schokofingern, niemand streitet sich um meine Decke, niemand will mein Kissen für irgendwelche Schlachten. Nichts. Kein Mucks. Totenstille. Überhaupt kein Problem, denke ich, Weihnachten, Besinnlichkeit, eine meiner leichtesten Übungen, schließlich bin ich die Weihnachtsfrau!

Ich gehe in die Küche, stelle das Radio an gegen die Stille, es ist Advent, es dudeln Weihnachtslieder. Ich mache Plätzchenteig, Vanillekipferln, niemand schreit Ich will mitmachen!!, Ruhe im Kinderzimmer, nur das Radio dudelt Cold, cold Christmas without you, ich mache noch einen Plätzchenteig, Kokosmakronen, niemand will Teig naschen, es dudelt Have yourself a merry little christmas, Stille in der Wohnung, ich knete Kipferln, ich forme Makronen, niemand da, der Sauerei macht, und bei Last christmasbreche ich zusammen. Niemand da. Und nichts im Stiefel außer Schafffellsohlen, nicht eine Schokokugel, kein Tannenzweig, kein Anruf, nichts. Und die Stille wird unerträglich. Nächstes Wochenende sind die Kinder wieder bei mir, hallelujah!