My bloody Valentine

Ist ja schön, wenn die Leute verliebt sind. Aber muss man denen gleich einen ganzen Tag widmen? Die haben doch sowieso schon den Mai. Und müssen die dann damit hausieren gehen und den ganzen Tag mit Rosen und Geschenkchen durch die Straßen latschen? Haben die kein Zuhause? Und haben die schon mal darüber nachgedacht, dass sie anderen Leuten damit vielleicht tierisch auf die Nerven gehen? Ist ja schon schlimm genug, dass man momentan nicht mal mehr zum Bäcker gehen kann, ohne von lustigen Clowns, wilden Katzen oder heißen Hexen bedient zu werden, das Nudelregal hat man mittlerweile auch den ewig Knutschenden überlassen – ich bin auf Reis umgestiegen – , jetzt wird man beim Brötchenkaufen auch noch von Torten in Herzform heimgesucht, verziert mit Marzipanherzchen und einem großen Schriftzug LOVE. Ist ja gut. Hysteriker. Diese Kombination aus Fasching UND Valentinstag, Narren UND Verliebte überall, das ist irgendwie zu viel. Entweder oder. Nächstes Jahr bitte zwei Wochen Abstand oder ich wandere aus. Happy Valentine.

die aktuelle

Bitte helfen Sie mir, ich bin frei!

Wie ist das so mit den vielen tausend Möglichkeiten, die einem das Leben bietet?

Bild: Alles Schlumpf, Lizenz:CC

Sind sie Segen oder Fluch? Bereicherung oder Verderben? Hat irgendwer das schon rausgefunden?
Über dreißig, beschenkt mit einem Angestelltenverhältnis, das ich so schnell wie möglich loswerden möchte, und an der Schwelle zu einer sich langsam entwickelnden Selbstständigkeit bleibt ein großer Raum offen für die große Frage: Was will ich denn noch so machen in meinem Leben?
Kräuterhexe, Hausfrau und Mutter, soll ich nochmal studieren oder doch Rockstar werden? Und ich stelle fest, diese Frage hat über die Jahre nichts von ihrem Schrecken verloren. Man fühlt sich wie mit 18, als man genauso ratlos vor der ungeheuren Vielfalt an Möglichkeiten stand. Und schon damals hatte diese Vielfalt nichts von einer sanften zukunftsweisenden Brise, sondern benahm sich eher wie ein Abgrund, der sich vor dem Unentschlossenen auftut. Ein Blick ins Internet (man kann sich ja mal informieren) genügt und die Informationsflut hat mich samt meiner Idee bis in die nächste Inkarnation begraben. Und sobald sich der Hauch einer Richtung abzeichnet, in die es einen vielleicht ziehen könnte, schwappt schon die nächste Flutwelle über den gerade mühsam errichteten Tellerrand, bevor man „ichtätvielleicht“ zuende gedacht hat. Da fliegen sie einem plötzlich alle um die Ohren, die ganzen Dinge, die man dann nicht machen kann, sobald man sich für eine Möglichkeit entschieden hat. Also schnell wieder zurückrudern und erstmal die nächsten 20 Jahre stillhalten, wer weiß, was da auf einen zukommt. Man kann diese Zeit ja wunderbar nutzen, um über all die Dinge nachzudenken, die man eigentlich schon die letzten 20 Jahre hätte tun können. Und sich darüber schwarz ärgern, dass man sie nicht getan hat. Dann ist es schließlich auch nur konsequent, jetzt auch nicht plötzlich so viel Wind zu machen. Herzlich willkommen auf der Seite der ewig Gelähmten.
Grenzen ist heute, mitten in meinem Kopf. Das Gehirn schwurbelt eine Idee nach der anderen zu einem Brei, der sich im Denken schwer und zäh anfühlt, und im Magen in etwa so, als hätte man eine Tüte Hummeln gefrühstückt. Und was soll dabei rauskommen, wenn’s oben klemmt und unten hummelt?
Keiner weiß es.
Steht uns wirklich alles offen? All die Möglichkeiten, die unsere Eltern nicht hatten? Ich hoffe nicht. Soviel Freiheit, das würden wir ja im Kopf nicht aushalten. Wir würden’s in jedem Fall irgendwo vergeigen. Und wären danach womöglich Verfechterinnen des Kastenwesens ( erleichtert die Berufswahl ungemein) und der arrangierten Ehe ( spart die ewige Frage, ob’s denn auch der Richtige ist). Was man dann allerdings mit all der eingesparten Zeit, in der man nicht mehr nachdenken muß, was man will, anfangen soll, das ist eine andere Frage.
Winken wir also der goldenen Mitte kurz zu, während wir sie mal wieder verpassen und mit einem Fuß auf dem Gaspedal und mit dem anderen auf der Bremse dem Horizont entgegenöddeln.

360 Joule für mehr Gemütlichkeit

Nachdem die ersten sechs Wochen des neuen Jahres ins Land gerast sind ist es amtlich: Diese Welt ist IMMERNOCH zu schnell.

Bild: Lipjin, Lizenz:CC

Agent Panty hat in diesen sechs Wochen zusammen mit ihren Kolleginnen bereits über 300 Überstunden angehäuft, Tendenz steigend. Verabredungen mit Freundinnen funktionieren ja schon lange nicht mehr ohne Kalender, aber was tun wir, wenn wir trotz Kalender in den nächsten vier Wochen keinen Termin für ein Date finden? Oder wenn der Agent und ich in der Schlange vor der Supermarktkasse stehen, dem hektischen bipbipbip des Scanners lauschen (nichtmal mehr für das „e“ im biep ist noch Zeit) und sich uns dabei unweigerlich das Bild eines immer schneller rasenden Herzens aufdrängt? Emergency room sagt uns die Diagnose: Ventrikuläre Tachykardie, übergehend in Kammerflimmern! Ein vor lauter Hektik flimmerndes Herz bringt keine ausreichende Auswurfleistung mehr. Und das ist kein unwesentlicher Kostenpunkt in irgendeiner Schreibtischschublade. Das ist ein lebensbedrohlicher Zustand. Und die Therapie? Die Serienguckerinnen wissen’s. Defibrillator laden, alle weg vom Tisch und drauf. Satte 360 Joule unterbrechen das Gerenne und schocken ein Herz wieder in einen mit dem Leben zu vereinbarenden Rhythmus.
Wo soll das nur hinführen? Turbokapitalismus in Voll- oder Teilzeit und ansonsten Autistin, weil zu nix mehr fähig und nur noch Ruhehabenwill? Dabei hätte ich ein qualitativ hochwertiges Phlegma, welches ich auch gerne in unsere Gesellschaft einbringen möchte. Neben der dringend nötigen Entschleunigung, weil so ein Phlegma ist ja von Natur aus sehr langsam, bringt es Qualitäten wie Bedächtigkeit, Gründlichkeit, Ruhe und Achtsamkeit mit sich, was doch durchaus nette und sinnvolle Eigenschaften sind.
Wieso sagt mein Chef nicht zu mir: O, Du denkst grade über wichtige, das Leben ansich und die Menschen betreffende Dinge nach? Dann geh doch heute früher und sinniere weiter bei einer gemütlichen Tasse Tee. Und vielleicht möchtest Du mich morgen an Deinen Erkenntnissen teilhaben lassen!
Wieso HöherSchnellerWeiter, wenn langsamhierunten auch sehr schön ist?

Bild: Bob.Fornal, Lizenz:CC

Die Welt braucht die Bedächtigen, die Wohlüberlegten, die Zartbesaiteten, die Künstler und vor allem die Gemütlichen. Es ist eine himmelschreiende Unverschämtheit, daß man sich als Angehöriger dieser Gruppe in so vielen Bereichen wie ein insuffizienter Alien fühlen muß, der irgendwas Wesentliches einfach nicht mitgeschnitten hat.
Der Agent und ich fordern also:
DIE MACHT DEN LANGSAMEN – UND FÜR DEN REST EINEN DEFIBRILLATOR!

 

Ma Baker

Bitte Socken mitbringen!

Nach einer nicht unanstrengenden Woche – massive Hirnverspulung, mittelschwere Herzgrippe (ich denke, ich komme durch), streikende Erzieherinnen in zwei Kinderbetreuungseinrichtungen (gebt ihnen doch bitte einfach ganz viel Geld!!!), kaputtes Auto, Fremdkinderbesuch mit Granateneinschlagseffekten im Kinderzimmer, Elterngespräch in der Schule – ist das Letzte, das ich am Samstag gebrauchen kann, ein Rhetorikkurs an der Volkshochschule, zu dem ich mich im letzten Herbst in einem Anfall von Bildungswahn angemeldet habe. Der Anfall muss sehr heftig gewesen sein, ich habe es nämlich geschafft, auch noch Frau Dr. Sprite mitzureißen und zur Mitteilnahme zu nötigen. Chancen und Risiken einer ausgeprägten Begeisterungsfähigkeit, gebt mir eine Idee, und ich verkaufe sie.

Der Weiterbildungsteufel

Wie gesagt, das war letzten Herbst, aber heute morgen ist heute morgen. „Jetzt rede ich – auch mit Lampenfieber!“ und zwar von 10 bis 17 Uhr, ich muss irre gewesen sein. Zum sechsten Mal in dieser Woche zwinge ich Hotti und Lotti ihr Frühstück gefälligst SCHNELL in sich hineinzustopfen, jage sie durchs Bad (LOS! MACH!! ZACKIG!!!) und liefere sie bei den jeweiligen Babysittern ab (Tschüssmeinschatzichhabdichlieb). Natürlich komme ich zu spät, Sprite sitzt sicher schon entspannt im Seminarraum und fragt sich, wo ich bleibe, hektisch schließe ich mein Fahrrad ab und als ich mich gerade zum hundertdreiundfünfzigsten Mal an diesem Morgen frage, welcher Teufel mich da bloß geritten hat, biegt Sprite um die Ecke, gehetzt, genervt und übellaunig, mit der Bäckertüte in der Hand, und fragt mich ebenfalls, welcher Teufel uns da eigentlich geritten hat. Bevor wir hineingehen, ringe ich ihr das Versprechen ab, mich bei der nächsten manischen Weiterbildungseuphorie BITTE aufzuhalten.

Vielleicht doch noch den Folgekurs dranhängen -?

Als Einstieg sollen wir einen Spontanvortrag vor der Gruppe halten. Auf Sprites Nase bilden sich Schweißperlen, ihre Knie zittern, mein Herz rast, unsere Hände werden klatschnass, der Impuls, auf der Stelle den Raum zu verlassen, wird übermächtig. Es hilft nichts, wir müssen da durch bzw. nach vorne. Wie durch ein Wunder überleben wir und dürfen in die Mittagspause. Für die zweite Einheit brauchen wir Socken (Bitte mitbringen!), habe ich natürlich vergessen, Sprite hat welche eingepackt, aber in die falsche Tasche. Nach anfänglichen Zweifeln und einer Stunde Körperhaltungs-, Stimm- und Luftballonspielchen packt es uns. Den nächsten Kurzvortrag mit argumentativer Drei-Schritt-Methode schaffen wir fast mit links und ohne Zittern, ich möchte mich auch nur noch hinter dem Projektor verstecken und nicht mehr gleich gehen. Wir werden euphorisch – wir, die neuen Rhetorik-Queens, wir werden sie alle mit dem klassischen Dreischritt in die Tasche stecken, notfalls auch mit Fünferschritten nachrüsten! HA! Die Moderation bei meinem Porno-Workshop (es ist nicht so wie es klingt) nächste Woche? Kinderspiel! Vielleicht doch noch für den Folgekurs anmelden?? Abschließend überzeugen Sprite und ich uns gegenseitig mit dem klassischen Dreischritt davon, dass wir das auf keinen Fall tun sollten und verabschieden uns glücklich ins wohlverdiente Wochenende.

Knutschen oder Klatschen?

Ist eigentlich schon einmal jemandem aufgefallen, dass es vom Froschkönig-Märchen zwei verschiedene Fassungen gibt? Bei Variante a) wird der Frosch geküsst (und verwandelt sich in einen Prinzen), bei Variante b) wird er an die Wand geklatscht (und verwandelt sich in einen Prinzen). So, und welche ist denn jetzt bitte die offiziell autorisierte Fassung? Oder darf man sich, je nach Prinzessinnengemüt, eine aussuchen? Knutschen für die hoffnungslosen Romantikerinnen, Andiewandklatschen für die knallharten Realistinnen? Ich werde das recherchieren. Vorschläge gerne in die dafür vorgesehenen Kommentarfelder.

die aktuelle

Herzgrippe I

Verliebtsein ist ja nicht zwangsläufig lustig. Mit hormonellen Höhenflügen, mentalen Grenzerfahrungen, dramatischen Fehleinschätzungen, einer erhöhten Risikobereitschaft und entsprechenden emotionalen Bruchlandungen erfüllt Verliebtsein, wie übrigens auch das Leben als solches, im Prinzip sämtliche Kriterien sehr gefährlicher Extremsportarten. Die offizielle Definition von Extremsportart in der Wikipedia lautet folgendermaßen:

„Unter Extremsport versteht man das Herangehen an sportliche Grenzen. Extremsport bedeutet für den Sportler eine besondere technische oder logistische und körperlich-psychische Herausforderung und ist oft mit hohem Risiko verbunden. Extremsport wird einzeln oder in kleinen Gruppen, manchmal fernab der Öffentlichkeit, manchmal mit großer Medienpräsenz durchgeführt und ist in einigen Formen auch illegal. Die Ausschüttung von Endorphinen kann Glücksempfindungen hervorrufen, aber auch zu Missachtung von Warnsignalen führen, die Unfälle verursachen können.“

Auch beim Verliebtsein überschreitet man Grenzen, es kickt, man macht es alleine, zu zweit, in Gruppen oder vor Publikum, manchmal ist es verboten, immer riskant, und bisweilen handelt man sich nicht unerhebliche Blessuren ein, vom Highsein über blaue Flecken bis hin zum Genickbruch ist alles drin. Eine körperlich-psychische Herausforderung ist es allemal. Nichts für schwache Nerven.

Saufen, Heulen, Zähneklappern

Als gemeiner Single wirft man knutschenden Pärchen im Supermarktnudelregal gerne böse Blicke zu, wünscht knutschenden Pärchen auf karierten wetterfesten Wolldecken im Park die Pest an die Hälse und ist versucht, knutschenden Pärchen auf Rolltreppen einen dezenten Tritt zu verpassen. Bis es einen selbst erwischt und man den lieben langen Tag in Nudelregalen, auf Karodecken oder Rolltreppen herumknutschen möchte. Im selben Moment verabschiedet sich das Gehirn quasi mit den Worten Ichbindannmalweg und taucht mit etwas Glück möglicherweise zwei Jahre später oder im nächsten Leben wieder auf. Statt dessen: Schmetterlinge, Moskitos, Hornissen, Flugzeuge, Achterbahn, Geisterbahn, Feuerwerk, Explosionen, kognitive Ausfälle, kommunikative Aussetzer, Fettnäpfchen, Kontrollverlust, die totale Verblödung. Schlafen und Essen werden zur Nebensache, man redet wirres Zeug, und zwar derart besessen, pausenlos und penetrant, bis selbst die letzte beste Freundin nicht mehr ans Telefon geht.

Man ist krank: Schweißausbrüche, Panikattacken, Herzrasen, Schüttelfrost, Schläge in die Magengrube mit der Rückstoßkraft einer Panzerfaust, Kreislaufschwäche, Kopfschmerzen, 50° Fieber, Augenringe, bei denen selbst der beste Abdeckstift versagt. Herzgrippe. Man ist benommen, zerschlagen, gerädert, geliefert, fertig, erledigt, müde, matt, das war’s. Man möchte einen meterlangen Schal um sein Herz wickeln, ein Fieberthermometer hineinstecken, sich einen Socken über den Kopf ziehen, unter der Bettdecke verschwinden und der Außenwelt, wenn möglich, nie wieder gegenübertreten. Man möchte mindestens Medikamente nehmen. Saufen, Heulen, Zähneklappern.

Vielleicht doch eher Golfen?

die aktuelle

Den Mutigen gehört die Welt

Mut ist, wenn du Todesangst hast und dich trotzdem in den Sattel schwingst.
(John Wayne)

Eigentlich grenzt es an ein Wunder, dass es diesen Blog überhaupt gibt. Ma Baker und die aktuelle mussten es nicht nur mit chronischem Zeitmangel, latenter Technikfeindlichkeit, äußeren Umständen, Außerirdischen und anderen Ausreden aufnehmen, nein, es galt vor allem auch Chancen und Risiken abzuwägen (Was, wenn uns nichts einfällt? Oder, schlimmer: Was, wenn uns jemand liest?), weibliche Selbstzweifel zu überwinden (Wier könen gah nich schraibn.) und männliche Zweifel am weiblichen Informationsgehalt zu ignorieren (Boar, voll selbstreferenziell, langweilig ey!) .

Peinlich, nicht putzig
Leider mussten wir feststellen, dass ab einem bestimmten Punkt auch und gerade die weiblichen Minderwertigkeitskomplexe einfach nicht mehr putzig, sondern nur noch peinlich und darüber hinaus hochgradig hinderlich sind. Diese bittere Erfahrung mache ich, als mir an ein und demselben Tag von zwei durchaus wohlmeinenden männlichen Mitmenschen die Frage nach dem Gedeihen unseres Blogs gestellt wird. Beim ersten Mal stammele ich etwas wie: „Ääääh, technisch ist alles fertig, nur trauen wir uns jetzt nicht was reinzustellen. (Pause.) Äääääh, das ist so’n Mädchending.“ Ich ernte einen ratlosen Blick, eine hochgezogene Augenbraue und der wohlmeinende Mann verlässt den Raum. Beim zweiten Mal sage ich nur: „Ich möchte nicht darüber reden.“ In dem Moment wird mir klar, dass es sich mit Selbstsabotage nicht länger kokettieren lässt und auch keine Blumentöpfe mehr zu gewinnen gibt. Im Gegenteil. Irgendwann werden Ichkanndasnicht und Ichtraumichnicht a) unsexy, b) albern, c) sinnlos, d) Energie- und e) Zeitverschwendung. Und irgendwann kann man es auch selbst nicht mehr hören.

Move your ass!

Also bissen wir in saure Äpfel, schluckten Kröten, brachen uns Zacken aus der Krone, sprangen über Schatten, schwangen uns in den Sattel und fingen an zu schreiben, um über den Tücken des Alltags nicht komplett den Verstand zu verlieren, den letzten Dingen auf den Grund zu gehen und damit auch noch uns und unser wertes Publikum zu bespaßen. Dass das schließlich doch noch geklappt hat, finden wir ganz wunderbra!

Lebenslänglich

Das neue Programm der Volkshochschule ist da. Da lebenslanges Lernen inzwischen Standard ist und auch Nahtoderfahrende vor Weiterbildungsmaßnahmen nur bedingt sicher sind – auch von ihnen wird beispielsweise eine einigermaßen solide Medienkompetenz erwartet (Stichwort Silversurfer) – , begebe ich mich also auf die Suche nach einer passenden Horizonterweiterung. Das Heft beginnt mit Kursen zur Stressbewältigung: Stressbewältigung durch Achtsamkeit, Umgang mit Ärger, Klopfakkupressur bei Ängsten (gibt’s wirklich) und Fühl dich gut (Bitte Socken mitbringen!). Den Kursen, die Hektik, Wut und Perfektionismus den Kampf ansagen, folgen Angebote zur Effizienzsteigerung: Speed-Reading (schnellere, effektivere Lesegeschwindigkeit für Studierende), Meine Kompetenzen managen, Perfekt verpackt! Deine schriftliche Bewerbung und Perfekt auftreten! Individuelle Selbstpräsentation im Vorstellungsgespräch.

Und jetzt? Be- oder entschleunigen, ich kann mich nicht entscheiden. Vielleicht sollte ich selbst Kurse anbieten. Wie wäre es zum Beispiel mit Traumatisierte Kinder, Jugendliche und Erwachsene des Turbokapitalismus oder Lebensfreude trotz Neoliberalismus (Bitte Socken mitbringen!)? Anmeldungen gerne in den Kommentarfeldern von Wunderbra.

Neighbours

Ein Sondereinsatzkommando stürmt die Wohnung und reißt die Anlage auf. Bild: Stefán, Lizenz: cc

Heute ist Samstag. Ich habe einen perfiden Plan ausgetüftelt, wie ich Hotti und Lotti garantiert zum längeren Ausschlafen als 6 Uhr 30 bewegen kann. (Eins der unerklärlichen Kindernaturgesetze besteht darin, dass man sie unter der Woche um 6 Uhr 30 nicht aus dem Bett bekommt, während sie am Wochenende um exakt dieselbe Uhrzeit topfit durch die Wohnung springen.) Gestern Abend also ließ ich sie extra lange herumtoben, bis sie mich anflehten sie endlich ins Bett zu bringen. Ich ließ die Rollläden im Kinderzimmer herunter, um ewige Nacht vorzutäuschen, und das Flurlicht brennen, damit niemand wegen totaler Finsternis und etwaiger Monster, Räuber, Vogelspinnen oder Krokodile, die sich gerne in selbiger herumtreiben, in Panik ausbricht. Und um Mitternacht zerrte ich die jammernde Lotti aus ihrem Bett und aufs Klo, nur damit sie nicht nachts um drei Pipi muss. Danach legte ich mich mit einem zufriedenen Lächeln auf den Lippen und der Gewissheit, alles für einen wohlverdienten ausgedehnten Schlaf ohne Unterbrechungen gesorgt zu haben, zur Ruhe.

Schlafstörungen, Liebeskummer oder Dachschaden?
Um sechs Uhr morgens jagt ein Sondereinsatzkommando mit schweren Maschinengewehren die Treppen hoch und tritt unsere Wohnungstür ein. Sie spielen RELAX von Frankie goes to Hollywood im Wohnzimmer und reißen die Stereoanlage auf. Ich sitze senkrecht in meinem Bett. Mein neuer Nachbar! Er arbeitet nachts und schläft dafür nicht tags, offensichtlich auch am Wochenende. Das Problem: Unsere Schlafzimmer liegen nebeneinander und sind quasi nur durch eine Papierwand getrennt. Durch diese dröhnt jetzt Nineteen von Paul Hardcastle. Ein wilder Ritt durch die 80er beginnt, allerdings werden die Titel nur angespielt. Ich liege auf dem Rücken, die Arme unter dem Kopf verschränkt, und rate die Titel. Zwanzig Sekunden Miami Vice Theme folgen vier verschiedene Metalbands (erkenne ich nicht), danach First Time First Love, schließlich bleibt er hängen bei I Need A Hero. Den brauche ich auch und der geht dann rüber und lässt meinen Nachbarn seine eigene Anlage fressen. Ey, was hat der genommen?! Hat er Schlafstörungen, Liebeskummer oder einfach einen Knall?? Der hat die ganze Nacht gearbeitet, der muss doch müde sein, warum schläft der nicht?

Um sieben Uhr: Plötzliche Stille. Entweder er ist eingeschlafen oder zusammengebrochen. Ich bin hellwach. Ich stehe auf und gehe duschen. Hotti und Lotti schlafen friedlich. Einkaufszettel für Drogerie: Ohropax für mich, eine Zehnerpackung Hopfen-Baldrian-Dragees für meinen Nachbarn.

Mein Schmerz ist größer als Dein Schmerz

Bild: Rosebud 23, Lizenz:CC

Ich stehe in einem lampionbeschienenen Garten, zarter Blumenduft umgibt mich und menschliche Stimmen dringen an mein Ohr. Einen Augenblick lang muß ich mich orientieren. Ich starre auf meine linke Hand, die einen Pappteller trägt, auf dem unverkennbar eine Grillwurst liegt. Meine rechte Hand hält sich an einer Bierflasche fest. Mir wird klar, wo ich bin: Auf einer Party!
Es erscheint mir eigenartig still, aber meistens braucht so eine Feier ja einen kleinen Anlauf. Jemand winkt mir, ich erkenne MeinGott, einen Freund von mir, der sich gerade mit zwei Frauen unterhält. Ich geselle mich dazu und setzte gerade dazu an, mit unverfänglich freundlichem Blabla in das Gespräch einzusteigen, als mich eine der beiden Damen, die ich irgendwo anders schon als Ou-weih kennengelernt habe, fragt: „ Und, was bedeutet für Dich Weiblichkeit?“ Ich bin zugegebenermaßen etwas irritiert von dieser Frage, denke als allererstes an Tampons und daran, daß es eine Frechheit von o.le ist, selbige mit Gerinnungshemmern zu versetzen, damit frau mehr davon braucht. Aber eine Antwort von mir scheint auch nicht zwingend notwendig. Ou-weih führt bereits ihre Gedanken weiter aus und ihrer Rede kann man entnehmen, daß es für sie immer noch schwer ist, ihre Weiblichkeit anzunehmen, da sie in ihrer Pubertät keine Anerkennung für ihren sich entwickelnden Körper bekommen hat. Die Frau neben ihr fügt dem eifrig hinzu, daß bei ihr ja noch erschwerend hinzugekommen sei, daß ihre Mutter für sie keinerlei positives Identifikationsobjekt gewesen war. Als die beiden beginnen, jede ihrer bisherigen Beziehungen hinsichtlich dieser Tatsachen zu durchleuchten stiehlt sich mein Inneres davon und als MeinGott aus Sicht der Männer ebensoviel beizutragen hat, folgt mir auch meine bierhaltende Hülle.
Ich brauche etwas leichter Verdauliches.
Beim Salatbuffet komme ich ins Gespräch mit einem flüchtig Bekannten, der sich nach dem dritten Salatblatt leider intensiv damit zu beschäftigen beginnt, daß ihn in der vierten Klasse alle gehänselt hatten, weil er ein wenig pummelig gewesen war. Als wir auch seine darauf folgende jahrelange Eßstörung samt dem mühevollen Weg wieder raus unter Berücksichtigung der Tatsache, daß dieses Problem ja bei Männern sehr unterschätzt wird, erörtert haben, ist mein Bier alle und ich brauche dringend ein Neues.
Auf dem Rückweg treffe ich Nu-ja, eine frühere Freundin und bin erleichtert, als wir einfach ein bißchen rumblödeln. Bis ihr Freund plötzlich aus heiterem Himmel anfängt, über seine schwere Kindheit zu reden, in der er sehr unter seinem emotional nicht präsenten Vater gelitten hätte. Bevor Nu-ja und ich diese Informationsflut verarbeiten können stößt Herr-je zu uns und erklärt, daß es bei ihm noch viel schlimmer gewesen war. Sein Vater war emotional nicht präsent und Alkoholiker gewesen. Schließlich nähert sich auch Ach-nee und macht uns alle darauf aufmerksam, daß er heute noch manchmal Albträume hat, wenn er an seinen Vater denkt. Der war emotional nicht präsent, Alkoholiker und hatte einen abwertenden Kommunikationsstil.
Als der Nachtisch dran ist sind wir endlich auch beim Kindesmißbrauch angelangt und die Stimmung steigt. Jeder kennt jemanden oder hat etwas in einem Buch gelesen und UmHimmelswillen macht mir irgendwie den Eindruck, als fände sie es beinahe bedauerlich, daß sie keine eigene Erfahrungen vorzuweisen hat.
Ich mache mit einiger Mühe mein achtes Bier auf und entfliehe auf die Tanzfläche, um dort in aller Ruhe ein bißchen im Kreis zu schwanken. Doch meine Freude währt nicht lange. Das nächste Lied ist „ Was hat Dich bloß so ruiniert“ von den Sternen. Alle stürmen die Tanzfläche und liegen sich heulend in den Armen.
Ich leere mein achtes Bier in einem Zug und ziehe es vor, einfach umzufallen.

 

Ma Baker